Tiere im Mittelalter – Von Pferden, Hunden, Katzen und anderem Ungeheuern

I. Einleitung

Einen Aufsatz über die Geschichte der Tiere im Mittelalter zu schreiben, ist aus zwei Gründen mutig. Zum einen ist die Quellenlage, verglichen mit dem, was man aus späteren Zeiten kennt, eher spärlich, zum anderen, muss man, weil die Quellenlage so spärlich ist, auf alles zurückgreifen, was man hat und das bedeutet wiederum, dass man neben den klassischen Dokumenten der Geschichtswissenschaft, also Urkunden, Verträgen, Chroniken und den Büchern der klassischen Geschichtsschreiber, auch auf theologische Traktate, literarische Epen und künstlerische Darstellungen zurückgreifen muss.

Darüber hinaus hat jeder Beitrag über das Mittelalter ein gewaltiges Problem: Das Wissen über diese gut 1000 Jahre andauernde Periode ist begrenzt und das, was im Allgemeinen bekannt ist, ist zu großen Teilen nur halb wahr, wenn überhaupt.

Über Tiere im Mittelalter zu sprechen ist zudem noch einmal besonders schwer, denn dazu muss man ja zunächst einmal klären, was ein Tier ist. Diese Frage erscheint unglaublich simpel, ist aber in letzter Zeit immer wieder Gegenstand akademischer Diskurse gewesen, denn die Abgrenzung des Menschen zum Tier wird aufgrund neuerer Forschung zur Genetik und Verhaltensbiologie immer ungewisser. Die Definition dessen, was ein Mensch oder ein Tier sein soll, variieren mehr und mehr.

Der Einfachheit halber will ich hier aber gar nicht die Grenze zwischen Mensch und Tier ziehen. Denn all diese akademischen Spielereien sind meiner Ansicht nach biologisch doch seit knapp 300 Jahren geklärt. Der Mensch wurde als Tier in die große Systematik des Lebens eingegliedert.

Viel interessanter ist die Abgrenzung zu all dem, was es auch noch gibt. Also zu Pflanzen, Bakterien und Pilzen. Aber das Mittelalter hatte zum Glück von all dem keine Ahnung. Solche wissenschaftlichen Kontroversen waren für den mittelalterlichen Menschen nicht vorstellbar.

Sein Wissen, seine Kultur, seine Bildung beruhten auf drei Grundlagen. Zum einen sein alltägliches Erleben im Umgang mit Tieren und die Weitergabe dieser Erfahrung, zum zweiten die griechisch-römische Tradition und zum dritten die Weisungen der Heiligen Schrift und all derer, die für deren Interpretation zuständig waren.

Dass diese drei Grundlagen nur in seltenen Fällen in die gleiche Richtung wiesen, sie allzu oft ganz unterschiedliche Wege gangbar machten, die sich kreuzten, widersprachen und gegenseitig eliminierten, gehört zur Ambivalenz dieser spannenden Zeit, die wir das Mittelalter nennen und die uns heute, da wir nur vereinzelte Hinweise auf das Leben in dieser Zeit haben, oftmals so viele Rätsel aufgibt. Dennoch: Versuch macht klug. Wollen wir uns also in das Abenteuer der mittelalterlichen Tierforschung stürzen und probieren, den unterschiedlichen Umgang mit den Tieren darzustellen.

I. Begriffsverwirrung und Bedeutungsunterschiede – Tiere der Bibel

In der Bibel wimmelt es von Tieren. In ihr finden sich zahlreiche Beschreibungen und Erwähnungen. Vor allem das Buch Hiob ist dafür ein wunderbares Beispiel. Doch beginnen wir am Anfang. Bekanntlich erschuf Gott in sechs Tagen Himmel und Erde, am letzten Tag vor seiner Ruhepause erschuf er den Menschen und gab ihm eine erhebliche Verantwortung mit, wie es im Buch Geneis bezeugt ist:

„Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen! (Gn 1, 28).

Das ist die Grundannahme für das mittelalterliche Denken zur Beziehung von Mensch und Tier. Der Mensch ist der Herr der Tiere. Aber Chef sein, erfordert eine Menge Verantwortung. Adam nahm sich dieser Aufgabe an und tat erst einmal etwas sehr Grundsätzliches: Er gab den Tieren Namen:

„Denn als Gott, der Herr, gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen“ (Gn. 2,19).

Das aber ist gar nicht so einfach! Das zeigt sich schon an der Übersetzung der Bibelstellen. Um noch einmal auf das Buch Hiob zurück zu kommen. Dort finden sich viel Tiere, die man zwar heute einigermaßen klar identifizieren kann, was im Mittelalter jedoch schlicht unmöglich war. Im 39. Kapitel dieses Buches wird der Amilin beschrieben, ein Tier mit hebräischem Namen, mit dem man im Mittelalter aus verschiedenen Gründen nichts anzufangen wusste, den Hebräisch sprach man im Mittelalter nicht. Man griff auf die Vulgata, die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus zurück. Der Kirchenvater übersetzte Amilin mit Rhinozeros. Martin Luther aber und mit ihm auch andere Übersetzer der Heiligen Schrift in die Volkssprachen, schrieben von einem Einhorn. Dabei gingen sie auf die griechische Version der Bibel zurück, nicht die hebräische. Wasaber ist der Amilin nun? Die Elberfelder Übersetzung, die probierte so nah wie möglich am hebräischen Original zu sein, verrät es uns dann: es handelt sich um einen Wildochsen. Drei Tiere, zwei real existent, eines der Fantasie entsprungen, weil die Namen eben nicht klar waren.

Noch deutlicher, und verrückter, wird dies bei einem ganz anderen Tier, dessen Heimat ausschließlich der Nahe Osten ist. Im Hebräischen Original findet sich in Psalm 104 der Schepan. Die Griechen machen aus diesem Tier ein Ferkel, Hieronymus findet einen Igel und Luther behilft sich mit einem Kaninchen. Der Schepan aber ist der so genannte Klippschliefer, der in der Tat einem Kaninchen am ehesten gleicht, wenn auch ohne die Ohren.

Lustigerweise war Luther nicht der einzige, der den Klippschliefer mit dem Kaninchen gleichsetzte. Auch die Phönizer machten das, als sie neues Land für sich entdeckten und dort eine Kolonie gründeten. In diesem Land fanden sie vor allem Kaninchen vor, die sie nicht kannten und beschlossen daher, diesen Tieren den Namen Schepan zu geben, das Land in dem sie diese Tiere vorfanden, nannten sie „Land der Kaninchen“, oder I-Schepan-In. Als die Römer die Phönizer von dort verdrängten, latiniserten sie den Namen zu Hispania, was wir heute nach als Spanien kennen.

Dia Aufgabe, die Gott Adam zugedacht hatte, war alles andere als leicht, aber so lange er allein war, war es im Prinzip auch egal. Begriffe braucht der Mensch ja nur, um sich mit anderen zu verständigen. So lange er alleine ist, kann er ein Tier an einem Tag Schepan, am nächsten Igel und am Tag darauf Kaninchen nennen. Verwirrend ist das nur für diejenigen, mit denen er kommunizieren will.

Irgendwann wird er sich mit Eva und seinen Söhnen auf einen Namen für jedes Tier geeinigt haben, aber damit war das Mensch-Tier-Verhältnis noch lange nicht abgeschlossen. Bedenkt man Evas enge Beziehung zur Schlange des Garten Edens wird sie es wohl gewesen sein, die damit anfing, den Tieren nicht nur Namen, sondern auch darüber gehende Bedeutungen zuzuschreiben. Die Schlange wurde natürlich klar als böse und Symbol des Teufels definiert. Was aber passierte mit den anderen Tieren?

Schauen wir noch einmal zu Hiob in das 39. Kapitel. Dort findet sich eine interessante Beschreibung des Pferdes: „Gibst Du dem Pferd die Stärke, legst Du ihm die Mähne an? Machst Du es springend wie Heuschreckenart der Aribä? Sein prächtiges Schnauben ist schrecklich. Es scharrt in der tiefen Ebene und es freut sich seiner Kraft, es zieht aus, den Rüstungen entgegen. Es verlacht die Furcht, erschreckt nicht und wendet sich nicht wegen des Schwerts. Über ihm klirren sie, der Köcher, der blitzende Speer und der Wurfspieß. Mit Ungestüm und Zorn streift es die Erde und ist nicht unsicher, wenn die Trompete laut ertönt. So oft die Trompete ruft, sagt es: Siehe da! Aus der Ferne wittert es die Schlacht, die donnernden Stimmen der Feldherren und das Kriegsgeschrei.“

Jeder, der Pferde kennt, wird in diesem Text erkennen, dass etwas nicht stimmt. Zwar ist das Tier stark, aber das es freudig in den Kampf zieht, zumal, wenn es laute Geräusche hört, widerspricht doch der Erfahrung, die wir mit dem Pferd als Fluchttier haben. In Hiobs Worten spiegeln sich vielmehr die Erfahrungen eines Volkes wieder, das zwischen mächtigen Großreichen agierte und oftmals in die Kriege dieser Großreiche, seien es die Ägypter, die Hethiter, Babylonier oder Perser gewesen, ohne eigenes Zutun hineingezogen wurden. Denn all diese Mächte setzten auf Pferde, wenn es darum ging, Kriege zu entscheiden.

Auch dem besten Freund des Menschen geht es ähnlich. Die Bibel sieht im Hund nur Ärger und Verwahrlosung. Er findet sich an vielen Stellen des alten und des neuen Testaments, doch nur an einer Stelle hört man über ihn etwas Positives. Ansonsten findet sich der treue Freund nur in Flüchen über verhasste Könige und andere Machthaber. Am eindringlichsten ist die Stellung des Hundes in einer Aufzählung im letzten Kapitel der Offenbarung des Johannes zu finden:

„Denn draußen vor dem Himmlischen Jerusalem sind die Hunde und die Zauberer und die Hurer und die Totschläger und die Abgöttischen und alle, die liebhaben und tun die Lüge.“

Natürlich können sie jetzt einwenden, dass hier ja gar nicht die Hunde gemeint sind, sondern damit eigentlich bestimmte Menschen, etwa schwule Männer, wie manche meinen, bezeichnet. Doch dann muss man natürlich dennoch die Frage stellen, warum der Hund, der beste und treueste Freund des Menschen, als Wort der Beleidigung genutzt wird. Denn das es eine Beleidigung ist, daran besteht kein Zweifel.

Der Grund dafür ist zweideutig. Zum einen hat es natürlich mit den realen Begebenheiten im Nahen Osten zu tun. Ein großes Problem dort sind bis heute Pariahunde, also Hunde, die umherstreunen, Menschen angreifen und Krankheiten verbreiten. Dass solche Tiere, keinen positiven Leumund haben, ist klar. Der zweite Grund hat natürlich damit zu tun, mit welchen Augen wir und auch die Menschen des Mittelalters auf Hunde schauten. Und das sind eben nicht die Augen der Bewohner des Nahen Ostens, es sind die Augen der Griechen und Römer, die sich hier in der Bedeutung durchgesetzt haben.

II. Von treuen Hunden und edlen Rössern – griechische-römische Tradition

Die Bibel ist ein wunderbares Buch, nicht nur aus religiöser, auch aus literarischer Sicht. In ihr finden sich Erzählungen von Sex und Gewalt, von Krieg und Frieden, romantische Liebesbeziehungen, ausgemachte Intrigen und Eifersucht und Betrug. Sie kann aufbauen, wenn man traurig ist und bei Langeweile wunderbar unterhalten. Von ihr als Buch der Bücher zu sprechen hat schon alleine deswegen Sinn, weil sich nahezu alle literarischen Gattungen, selbst Gesetzestexte und Rezepte, in ihr wiederfinden. In ihr spiegelt sich die Kultur eine längst vergangenen Epoche wieder, über die man unglaublich viel erfahren kann – und wie bei jedem guten Buch, auch unendlich viel über sich selber. Sie ist Zeugnis einer Jahrtausende alten Tradition und steht damit am Anfang der abendländischen Tradition.

Damit aber steht sie nicht alleine. Als Begründerin der abendländischen Literaturgeschichte hat sie neben sich zwei unglaublich dicke andere Werke stehen, die nicht in Bücher, sondern in Gesänge gegliedert sind. Auch in ihnen geht es um Krieg, um Liebe, um Menschen. Und wie in der Bibel, in der es der eine Gott ist, dessen Geschichte mit den Menschen aufgezeigt wird, finden sich auch in diesen beiden Werken das Eingreifen der Götter in das Leben der Menschen beschrieben. Die Rede ist von der Ilias und der Odyssee, jenen beiden Epen des blinden griechischen Sängers Homer.

Auch bei ihm kommen Pferde und Hunde vor. Schon zu Beginn der Ilias finden sich die Pariahunde, die die gefallenen Soldaten anbeißen. Aber viel eindrücklicher ist eines der letzten Kapitel der Odyssee. Als Odysseus nach seinen Irrfahrten endlich wieder in Ithaka landet, muss er sich zunächst versteckt halten, denn in seiner Abwesentheit haben sich Unmengen an Verehren an seine Frau Penelope herangemacht. Diese blieb zwar standhaft, aber die ganzen Verehrer, bleiben, in der Hoffnung, Penelope würde sich, sobald sie vom Tod ihres Mannes erfahre, doch noch für einen der ihren entscheiden. So gibt sich Odysseus zunächst bedeckt und unter dem Schutz der Athene kommt er in veränderter Gestalt an seinen Hof.

Keiner erkennt ihn, bis auf Argos, seinen treuen, alten Hund, der von der Dienerschaft vernachlässigt mittlerweile auf dem Misthaufen schläft. Argos, mittlerweile ein alter Hundeherr mit über 20 Jahren, erwacht, als der unerkannte Odysseus kommt, springt auf, rennt zu seinem Herren, wedelt noch einmal mit dem Schwanz und stirbt.

Diese wunderschöne, traurige Szene, in der die Treue des Hundes zu seinem Herrn literarische für immer festgehalten wird, zeigt auf, wie sehr die Griechen ihre Hunde mochten. Hunde, die in Kriegen gekämpft hatten, wurden von ihnen ausgezeichnet und mit einem Ehrensold bis zum Lebensende alimentiert.

Da die Römer von den Griechen nahezu alles Kulturelle übernahmen, kann es nicht verwundern, dass sie sich auch deren Beziehung zu Hund zu Eigen machten. So ist es der bekannte Jurist, Rhetor und Politiker Cicero, der in seinem philosophischen Werk vom Wesen der Götter, dem Hund die griechische Treuefunktion unterstellt. So schreibt er:

„Die treue Wachsamkeit der Hunde, die so liebevolle Anhängigkeit an ihren Herren, ihr so erbitterter Hass gegen Fremde, der so unglaubliche Spürsinn ihrer Nasen und ihre große Jagdlust – deutet das nicht auf ihre alleinige Bestimmung, den Menschen von Nutzen zu sein?“

Dabei handelt es sich nicht um die Einzelmeinung eines Hundeliebhabers. Die Liebe der Römer zu ihren Hunden ging so weit, dass sie ihnen sogar imposante Grabstätten errichteten, in die sie lyrische Zeugnisse ihrer Tierliebe eingravieren ließen. Eines davon ist einer Hundedame aus Gallien gewidmet:

Gallien hat mich gezeugt, den Namen gab mir die Muschel des an Schätzen reichen Meeres; der ehrenvolle Name ist meiner Schönheit angemessen. Dazu ausgebildet, kühn unsicheres Waldgelände zu durchstreifen und auf den Hügeln struppiges Wild zu jagen, wurde ich doch nie daran gewöhnt schweres Jagdgeschirr zu tragen und an meinem schneeweißen Körper grausame Schläge zu dulden. Denn ich lag gewöhnlich auf dem weichen Schoß meines Herrn und meiner Herrin und verstand mich darauf, matt im gemachten Bettchen zu ruhen. Nicht mehr als erlaubt sprach ich, die Hündin, mit meinem Mund, dem keine Sprache gegeben war: Niemand fürchtete sich vor meinem Bellen. Doch schon hat mich das Todeslos ereilt, niedergestreckt von einer unglücklichen Geburt, <mich>, die nun unter dem kleinen Marmorstein die Erde bedeckt Magarita.“

Als das Christentum Einzug hielt in das römische Reich und im 4. Jahrhundert dann Staatsreligion wurde, galt es diese zwei unterschiedlichen Auffassungen miteinander zu verbinden. Auf der einen Seite gab es die absolute negative biblische Auffassung vom Hund, auf der anderen Seite war den römisch erzogenen Oberschicht, die Nützlichkeit des Hundes klar vor Augen. Einen Versuch, der wenig überzeugen kann, lieferte der Kirchenvater Augustinus. Bei der Auslegung von Psalm 67 etwa probiert er darzustellen, dass der erwähnte Hund gar kein echter Hund sein kann, da dieser ja nützlich sei und negiert an anderer Stelle schlicht die negative biblische Einstellung zu Hunden.

Was für den Hund gilt, galt noch mehr für das Pferd. Auch dieses wurde in der grichsichen Tradition positiv besetzt, wie etwa das Pferd Alexanders des Großen, Bukephalos. Esstarb bei der Schlacht am Hydaspes gegen den König von Indien. Es hatte ihm wahrlich gute Dienste in so mancher Schlacht gegen die Perser getan und so wurde es nicht nur bestattet, nach ihm wurde auch eine ganze Stadt benannt: Heute kennt man sie unter dem Namen Jhelam im pakistanischen Punjab, damals war ihr Name Alexandreia Bukephalos.

Als siegreiche Militärstreitmacht, war das römische Reich auf Pferde angewiesen, aber auch gesellschaftlich spielte es eine entscheidende Rolle. Neben der Oberschicht des römischen Reichs, den Patriziern, und der viel gescholtenen Plebs, der Unterschicht, entwickelte sich im Laufe der römischen Republik eine Mittelschicht heraus, die schon in ihrem Namen ihre Verbundenheit mit dem Pferd ausdrückten, die equites, oder auf Deutsch: die Ritter. Wie in jeder Gesellschaft sind es die Mitglieder der Mittelschicht, die den gesellschaftlichen Fortschritt bringen. Das Pferd war als Zeichen für den gesellschaftlichen Aufstieg so bedeutend, dass bei der Übernahme des Christentums niemand auch nur auf die Idee verfiel, den biblischen Verweis bei Hiob in Erwägung zu ziehen.

III. Aberglaube und Lebenswelt

Es hat sich also gezeigt, dass es für den mittelalterlichen Menschen ein stetes Hin und Her zwischen der biblischen und denjenigen Traditionen gab, in die das Christentum eingeführt wurde. Ein weiteres Beispiel dafür ist etwa das Schwein, dessen Fleisch nach biblischer Vorstellung nicht essbar sei, da es sich um ein unreines Tier handelte. In den Vorstellungen der Germanen und Kelten aber war insbesondere der Eber nicht nur ein Attribut einzelner Götter, etwa der Jagdgöttin Arduinna, sondern auch generell ein Symbol von Kraft und Stärke, was den Verzehr des Fleisches wünschenswert machte. Unnötig zu erwähnen, dass auch das Halten von Schweinen in der griechisch-römischen Tradition fest verwurzelt war. Auch die Schweinehaltung etwa finden sich in Homers Odyssee.

Wenn also schon im Beginn der Christianisierung zwei unterschiedliche Denkmuster aufeinander prallten und in vielen Fällen die biblisch-christliche Tradition unterlag, kann es da verwundern, dass mit Tieren auch ein steter Aberglaube einherging, der sich gegen christliche Vorstellungen stellte? Ein besonderes Beispiel ist dabei die Katze, die bezeichnender Weise gar nicht in der Bibel vorkommt.

Die in der Nacht leuchtenden Katzenaugen übten für die Menschen des Mittelalters eine unheimliche Faszination aus. Die Tatsache, dass sie nur halbdomestiziert war und als eigenständiger Jäger von Nagetieren und Vögeln ebenso auftrat wie als anhängliches Schmusetier brachte ihr den Ruf eines alle Regeln sprengenden Gesellen ein, was in einer Welt, in der die Ordnung und der status quo als hohes Gut galt, negativ gewertet wurde.

So avancierte die Katze zu einem Symbol des Bösen schlechthin. Der mittelalterliche Mensch musste sich so mit der Katze auseinandersetzen. Die heilende Wirkung des Feuers war ein solches Mittel. Mit dem Auftreten der Inquisition im späten Mittelalter kam es zu zahlreichen Ketzerbestrafungen, unter denen die Verbrennung eine übliche Form der Urteilsvollziehung war.

Die Ketzer, ein Wort, das sich von den Katharern ableitet, jener südfranzösischen Religionsgemeinschaft, die sich der katholischen Kirche entgegenstellte und schon ein paar Jahrhunderte vor Luther auf Probleme im Dogma Roms hinwies, sollten durch das Feuer erlöst werden. Der Brauch der Verbrennung von Ketzern und später von Frauen, die als Hexen galten, wurde in Europa zum Teil bis in das 20. Jahrhundert beibehalten. Hier sei angemerkt, dass die Hexenverfolgung vor allem nach dem Mittelalter ansetze und oftmals wesentlich mehr protestantisch, als katholisch geprägt war. Die Symbole des Bösen wurden dabei nicht selten mit ins Feuer geworfen und so verbrannten in Feuern, die oftmals auch einfach als Brauchtum während Volksfesten entzündet wurden, tausende Katzen im Verlauf des Mittelalters und darüber hinaus.

Neben dem Verbrennen war es vor allem in Belgien ein beliebter Sport, Katzen von Wachtürmen zu werfen. In Ypern gibt es diese Tradition noch heute, allerdings mit Plüschkatzen. Grund dafür war nicht nur die Verbindung der Katze mit dem Teufel, sondern auch ihre Stellung als Attribut für die germanische Göttin Freya. Ihr sollten die Menschen durch den Tod der Katzen abschwören.

Auf der anderen Seite finden sich dann aber doch auch Hinweise darauf, dass man im Mittelalter auch von der tatsächlichen Nützlichkeit der Katze überzeugt war. So findet sich in der Kathedrale von Winchester in Großbritannien im Chorraum des 14. Jahrhunderts eine ins Holz eingearbeitete Kirchenkatze mit einer gefangenen Maus im Maul. Ihre Symbolik ist eindeutig. Die Katze soll den aus Holz erstellten Chor vor Nagetieren schützen.

Diese künstlerische Arbeit hat dabei ein reales Vorbild. Die Häuser vieler mittelalterlichen Städte beinhalten lebendig eingemauerte Katzen. Sinn dahinter war der Schutz des Hauses vor Nagetieren. Die tote, eingemauerte Katze hatte die Aufgabe symbolisch das Haus zu schützen.

So barbarisch uns diese Prozeduren auch erscheinen mögen, darf man für das Mittelalter eines nicht vergessen. Während wir heute darüber diskutieren, ob Tieren Rechte eingeräumt werden sollen, nahm das mittelalterliche Rechtssystem diese Diskussion bereits sehr ernst und gab den Tieren nicht nur Rechte, sondern auch gleich bestimmte Pflichten. Wenn sie sich daran nicht hielten, kam es zu vollkommen ernsthaft geführten Prozessen. Ein Schwein, das einem unvorsichtigem Jungen einen Arm abgebissen hatte, kam ebenso vor Gericht, wie ein Bienenschwarm, dem man vorwarf durch seine Anwesenheit einen Bauern bei der Arbeit zu stören.

Überhaupt spielen Tiere bei Gerichtsverhandlungen eine wichtige Rolle, denn sie sind oftmals Teil der verhängten Strafe. In solchen Fällen greift dann wieder ein biblisches Verständnis des ein oder anderen Tieres. So war es üblich, Juden, die man beim Klauen erwischt hatte, zusammen mit zwei Straßenköttern aufzuhängen. Allerdings wurden der Delinquent mit den Füßen aufgehangen, was auch für die Hunde galt, die in ihrer unschönen Situation um sich bissen und so dem Verurteilten noch mehr Pein bereiteten. Grundlage für diese Prozedur war der Ausspruch Jesu am Kreuz „Mein Herr, warum hast du mich verlassen“. Dieser Spruch aber ist ein Psalmenzitat (Ps. 22,2) und geht weiter mit

Viele Hunde umlagern mich und durchbohren mir Hände und Füße“. Für die Menschen des Mittelalters war damit klar, dass Juden und Hunde zusammengehören, daher hängte man diese zusammen auf.

Hunde, vor allem die Streuner, von denen es im Mittelalter unzählige gab, waren als Mittel der Strafe aber nicht nur in solchen Fällen beliebt. Auch Adelige, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen, wurden mit ihnen in Verbindung gebracht. So musste ein Adeliger, der vergeblich probiert hatte, den König zu stürzen als Strafe durch Prag ziehen und dabei einen Hund tragen, den man zuvor überfüttert hatte. Der Hund übergab sich auf den Adeligen, der damit der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Auch das Küssen des Hundehinterns war als ehrenrührige Strafe beliebt.

Gleichzeitig gab es zumindest einen Hund, der sogar den Status eines Heiligen bekam, wenn auch nicht offiziell, aber doch durch Verehrung: Der Heilige Guinefort. Dieser Hund Guinefort war seinem Herrn, einem Ritter in der Nähe des Klosterdorfs Neuville, nördlich von Lyon, treu ergeben. Als dieser mit seiner Frau das Schloss einmal verlassen hatten, gelangte eine Schlange in die Wiege des Kindes. Guinefort kämpfte mit dem Eindringling und schaffte es schließlich die Schlange zu besiegen. Mit ihrem Blut besudelt, legte er sich neben die Wiege und wartete auf seinen Herrn. Als dieser aber zurück kam, meinte er, der Hund habe das Kind getötet und erschlug Guinefort mit seinem Schwert. Erst danach entdeckte er seinen Nachkommen gesund und munter in der Wiege. Als sie die getötete Schlange fanden, bereuten sie ihre Tat, bestatteten den Hund und pflanzten zu seinem Angedenken Bäume.

Vom Schloss selber ist nichts mehr zu finden, der Wald um die Beerdigungsstelle des Guinefort aber erfreute sich bei der ländlichen Bevölkerung der Gegend großer Beliebtheit. Kranke und schwächliche Kinder wurden dort abgelegt und sollten in einem seltsamen Ritual geheilt werden. Der Inquisitor Étienne de Bourbon, von dem diese Geschichte überliefert wurde, berichtet von Salz und anderen Opfern, die in dem kleinen Wäldchen Guineforts verstreut wurden. Die Windeln der Kinder wurden in die Sträucher gelegt und Nägel in die Bäume geschlagen. Zwischen diesen Bäumen und Sträuchern warfen die Mutter und eine wissende Alte das Kind neunmal hin und her, um es dann schließlich zwischen zwei niederbrennenden Kerzen abzulegen und alleine zu lassen. Überlebte das Kind diese Tortur, wurde es in einem nahe gelegenen Fluss, dem Chaleronne, neun mal eingetaucht. Lebte das Kind danach noch, war seine Lebenskraft bewiesen. Der Kult um den heiligen Windhund Guinefort war langjährig und existierte mindestens bis in die Zeit des 1. Weltkriegs, nach Aussagen anderer bis in die 1930er Jahre hinein.

Ob die Geschichte um Guinefort übrigens wirklich passierte, ist zweifelhaft. Zu viele literarische Vorlagen ganz unterschiedlicher Jahrhunderte und Regionen zeugen von ähnlichen Geschichten vom Indien des 6. vorchristlichen Jahrhunderts bis in das Wales des 14. Jahrhunderts kann man Hunde finden, die zu Unrecht von ihren Herren erschlagen werden, die diese Tat dann bereuen.

IV. Fantasietiere: Mittelalterliche Ungeheuer am Beispiel von Nessie

Somit sind wir mit der Legende vom heiligen Windhund bei den Tieren angelangt, die mystisch sind und nur in der Vorstellung erscheinen. Daher bleiben wir gleich da und kümmern uns um die ganzen Monster und Ungeheuer, von denen es im Mittelalter nur so wimmelt. Eines der bekanntesten Monster der heutigen Zeit hat, das mag wenig erstaunen, auch mittelalterliche Wurzeln: Nessie, das Ungeheuer von Loch Ness.

Wer sich auch nur oberflächlich mit der Geschichte der Sichtungen des Monsters beschäftigt, wird recht schnell auf das Jahr 565 stoßen. Dieses Jahr gilt als die erste wie auch immer als gesichert geltende Sichtung des Ungeheuers. Der Augenzeuge ist dabei wahrhaftig kein zu tief ins Glas schauender schottischer Bauer, sondern niemand anders als der Heilige Kolumban von Iowa, der Missionar der Schotten selbst, der hier als Gewährmann agiert.

Betrachtet man sich die Quellenlage genauer, dann ist es aber doch ein wenig anders. Kolumban selber hat zu seiner Sichtung des Ungeheuers gar nichts geschrieben. Die Sichtung des Jahres 565 beruht auf einer recht kurzen und wenig ausführlichen Stelle in der Vita des Heiligen, die von einem seiner Schüler, Adomnan, verfasst wurde. Darin heißt es im 27. Kapitel des zweiten Buchs:

„Auch zu einer anderen Zeit, als sich der gesegnete Mann für eine Anzahl an Tagen in der Provinz der Picten aufhielt, war es nötig den Fluss Ness zu überqueren. Als er dessen Ufer erreichte, sah er ein bemitleidenswertes Männlein, das beerdigt wurde. Diejenigen, die beerdigten, berichteten davon, dass der Tote, nicht lange davor noch geschwommen und sehr schwer von einem Wassertier gebissen worden sei. Einige Männer, die mit einem hözernen Boot herausgefahren waren, um ihn zu retten, hatten Hacken herausgeholt und konnten nur noch den elenden Leichnam bergen. Als der gesengte Mann dies hörte, befahl er sofort, dass einer seiner Begleiter hinaus schwimmen sollte, um ihm segelnd ein Boot zu bringen, das auf dem anderen Ufer des Sees lag. Die Worte des heiligen Mannes hörend, gehorchte Lugne mocu Min auf der Stelle, zog seine Kleidung bis auf die Unterkleidung aus und sprang in das Wasser. Aber das Ungeheuer, dessen Hunger von seiner vorherigen Beute noch nicht gestillt war, verbarg sich in den Tiefen des Flusses. Als es fühlte, dass das Wasser durch das Schwimmen gestört wurde, schwamm es plötzlich an die Oberfläche in Richtung des in der Mitte des Stroms mit weit geöffnetem Maul und lautem Gebrüll. Der gesegnete Mann sah dies, während alle, Heiden und Brüder, durch diesen außerordentlichen Schrecken niedergeschlagen waren, und erhob seine heilige Hand und zeichnete das rettende Zeichen des Kreuzes in die leere Luft. Dann, den Namen des Herrn anrufend, befahl er dem Tier und sprach: ,Du wirst nicht weiter schwimmen und den Mann töten. Du wirst schnell zurückkehren!‘ Als das Tier diesen Befehl des Heiligen gehört hatte, floh es, als ob es mit Seilen zurückgezogen würde, floh erschüttert, obwohl es zuvor schon so nah an Lugne herangekommen war, dass es kaum noch Abstand zwischen beiden gab. Die Brüder, als sie sahen, dass sich das Tier zurückgezogen hatte und ihr Mitbruder Lugne unversehrt und sicher in dem Boot zurückgekommen war, lobten mit großer Begeisterung Gott und den gesegneten Mann. Auch die heidnischen Barbaren, die zu diesem Zeitpunkt dort gestanden hatten, waren beeindruckt durch die Wucht des Wunders, das sie selbst gesehen hatten und lobten den Gott der Christen.“

So weit der Bericht Adomnans zur ersten schriftlich festgehaltenen Sichtung eines Ungeheuers. Drei Dinge fallen an diesem Text auf. Erstens scheint das Monster sich nicht im Loch Ness, also dem See, sondern dem Fluss befunden zu haben. Dieser kleine Widerspruch löst aber auf, wenn man die Gestalt des Sees bedenkt, der in seiner Länge durchaus an einen Fluss erinnert. Zweitens wird der Wesen im See nur an einer Stelle tatsächlich als Ungeheuer (bilua) bezeichnet, in den anderen Fällen als Tier (bestia). Der erste Begriff wird in dem Zusammenhang verwendet, in dem das Tier als besonders gefräßig dargestellt wird, in allen anderen Fällen bleibt es ein Tier. Es scheint daher durchaus im Rahmen des Möglichen, das hier gar kein Ungeheuer beschrieben wurde, sondern in der Tat ein großes Tier. Drittens schließlich fällt auf, dass vor allem das Verhalten des Tieres beschrieben wird, aber nicht sein Aussehen.

Überhaupt ist Verhalten das Topthema des Textes. Im Text werden vor allem Verhaltensweisen beschrieben – des Tieres im See, aber auch der Menschen. Der Verfasser ist in der Lage die Aufmerksamkeit komplett auf die Szenerie zwischen dem Tier und Bruder Lugne zu legen, so dass der Leser ähnlich wie die Zuschauer, am Ufer des Flusses, gebahnt auf das Geschehen achtet. So wird die Tat Kolumbans, die diese Szenerie aufbricht, wesentlich verstärkt und erlaubt es so, dessen Handeln in den Mittelpunkt zu stellen. Den Schluss des Textes bildet dann nicht nur das Lob Gottes unter der frommen Gefolgschaft Kolumbans, sondern auch das Eingeständnis der „heidnischen Barbaren“ hier sei ein Wunder Gottes beobachtet worden. Auch wenn nicht explizit erwähnt, darf man wohl davon ausgehen, dass im Anschluss die Taufe nicht lange auf sich warten lies.

Das Bekehrungserlebnis ist in dieser Geschichte das zentrale Motiv. Durch ein Wunder, das sowohl von Menschen gesehen wird, die bereits Christen sind, als auch von Menschen, die es im Zuge des Wunders werden, ist der Heilige in der Lage eine große Gruppe von Menschen zu bekehren – auch durch das (Vor)Lesen der Vita selbst. Die bereits gläubigen Christen zeugen von der Aufrichtigkeit des Wunders. Ihre Anwesenheit ist, guten mittelalterlichem Rechtsverständnis folgend, eine Garantie dafür, dass die Aussage stimmig ist. Dass heidnische Pikten das Wunder sehen führt so zu einer Massenbekehrung, der sich auch andere Heiden Schottlands anschließen sollen. Dass Wundertätigkeit Kolumban zudem in die Nachfolge Christi stellen, versteht sich von alleine. Die imitatio Christi war im Mittelalter höchster Lebenszweck. Wer diese erreichte, war heilig.

Warum aber muss es ein Monster sein, das hier bezwungen wird? In frühmittelalterlichen Heiligenviten sind Ungeheuer, unter anderem auch in Flüssen und Seen, nichts Ungewöhnliches, so dass man sie als einen literarischen Topos bezeichnen kann. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit auch das Ungeheuer von Loch Ness als ein Topos dieser Art betrachtet werden kann. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicherlich die Legende des heiligen Georg, dessen Darstellung in Kirchen ihn immer mit einem Drachen zu seinen Füßen zeigt. Die wohl bekannteste Version der Legende stammt aus der Feder von Jacobus de Voragine, die er zusammen mit anderen Heiligenviten in der Legenda aurea niedergeschrieben hat:

„Eines Tages kam [Georg] in eine Stadt in Libyen mit dem Namen Silena. In der Nähe dieser Stadt war ein großer See so groß wie das Meer. Darin befand sich ein unheilbringendes Ungeheuer (draco), das schon mehrfach das Volk, das sich zu wehren versuchte, in die Flucht geschlagen hatte und mit seinem Gifthauch alle vergiftete, sobald es sich den Mauern der Stadt näherte. In dieser Zwangslage gaben ihm die Bürger täglich zwei Schafe, um sein Wüten zu mäßigen. Andernfalls rannte es gegen die Stadtmauern an und verpestet die Luft, so dass viele starben. Als dann kaum noch Schafe vorhanden waren […] übergaben sie dem Ungeheuer nur noch ein Schaf zusammen mit einem Menschen. […] Eines Tages kam auch die einzige Tochter des Königs an die Reihe und wurde dem Drachen zugesprochen. […] Der König kleidete sie in königliche Gewänder und umarmte sie […]. Dann küsste er und ließ sie gehen. […] Der heilige Georg kam zufällig durch diese Gegend und sah sie weinen. Er fragte sie, was sie denn habe. […] Sie erzählte ihm die ganze Geschichte. Georg sagte darauf: ,Meine Tochter, fürchte dich nicht. Denn ich werde dir in Christi Namen helfen.‘ […] Während sie diese Worte wechselten, tauchte das Ungeheuer auf und hob seinen Kopf aus dem See. […] Darauf bestieg Georg sein Pferd, schützte sich mit dem Kreuz und ritt dem Drachen, der auf ihn loskroch, voll Kühnheit entgegen. Mutig schleuderte er seine Lanze und legte sein Schicksal in Gottes Hand. Er verwundete das Untier schwer und streckte es zu Boden. […] Darauf winkte der heilige Georg und rief ihnen zu: ,Fürchtet euch nicht, denn der Herr hat mich zu euch geschickt, um euch vor dem Unheil des Drachen zu befreien. Glaubt nur an Christus; jeder einzelne von euch möge sich taufen lassen, und dann werde ich diesen Drachen töten.‘ Darauf ließen sich der König und das ganze Volk taufen. Der heilige Georg aber zog sein Schwert, töte den Drachen und gab den Befehl, das Untier aus der Stadt zu schaffen.“

Zahlreiche Elemente aus der Vita Kolumbans tauchen auch hier wieder auf, wenn auch die Geschichte eine andere ist. Auffällig ist sicherlich die Tatsache, dass auch Georgs Drache eine Ungeheuer ist, das in einem See lebt. Davon abweichend ist es aber in der Lage an Land zu kommen und mit seinem giftigen Atmen zu töten. Auch die Bekehrungsszene am Ende der Geschichte hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Vita Kolumbans, weicht aber auch in einem Punkt stark ab. Während Kolumban das Monster bezwingt ohne eine Gegenleistung zu verlangen, macht Georg die Taufe zur Bedingung für den Tod des Ungeheuers.

Man könnte nun argumentieren, dass durch diese bedingungslose Tat Kolumban heilige und ehrenvoller als Georg erscheinen sollte, da Georg bereits im dritte Jahrhundert lebte, Kolumban aber erst dreihundert Jahre später. Adomnan hätte demnach die Geschichte gekannt und sie zu Gunsten seines Lehrers genutzt. Diese Überlegung hat jedoch ein Problem. Auch wenn die Vita Georgs älter ist als die Kolumbans, erscheint die Drachengeschichte erst ab dem 12. Jahrhundert in ihr. Vorher finden sich keine Spuren dieses Kampfes mit dem Drachen. Es ist vor allem Jacobus de Voragine, der diese Version der Legende erzählt und durch die Verbreitung seiner Legenda Aurea wurde sie so populär, das andere sie übernahmen.

Aber auch in anderen Heiligenviten finden sich Ungeheuer. Etwa einhundert Jahre vor Kolumban lebte mit Symeon Stylites im syrisch-kilikischen Grenzgebiet ein Heiliger, der als Säulenheiliger verehrt wurde. Über ihn wird erzählt:

„Und nach diesen Tagen [,an denen er so viele Menschen geheilt hatte,] machten sie ihm eine Säule, vierzig Ellen hoch, und er stand auf ihr noch sechszehn Jahre bis zu seinem Tod. Nun hauste zu jener Zeit nicht weit von ihm gen Norden ein großmächtiger Drache – kein Gras mehr konnte in der Gegend wachsen – dem fiel ein Aststück von einem Baum ins rechte Auge. Und siehe, eines Tages kam der blinde Drache von sich selbst herangeschleppt zu der Säule, auf der der Gottesmann sein Wohnen hatte, und rollte sich, wie um Verzeihung bittend, in sich zusammen, und so lag er mit geducktem Kopfe da. Und der selige Symeon sah herab auf ihn, und allsogleich fiel das ellelange Holz aus einem Auge. Und alle, die es sahen, lobten Gott, und dennoch flohen sie vor ihm in ihrer Furcht. Da rollte sich das Tier auseinander und blieb unbewegt auf demselben Platz, bis alles Volk sich verlaufen hatte. Dann stand es auf und hielt Anbetung an dem Aufgang zu diesem Kloster wohl zwei Stunden lang, und kehrte dann zurück zu seinem Lager und tat niemand einen Schaden.“

Mit dieser Erzählung liegt eine ganz andere Geschichte vor. Der Drache mag zwar gefährlich sein, was seiner Natur entspricht, hat aber niemanden geschädigt. Davon abgesehen entscheidet sich das Tier ganz gegen seine Natur und bietet als Opfer eines Unfalls um die Hilfe des Heiligen, die dieser ohne Fragen gewährt. Am Ende erfährt der Leser zwar von einer Menschenmenge, die das Wunder sah, alle sind bereits gläubige Christen, aber es gibt eben aus diesem Grund keine Taufe. Auch wird das Tier nicht getötet. Im Gegensatz zur Georg gibt es auch hier kein zeitliches Problem, denn alle drei Versionen dieser Heiligenvita stammen aus einer Zeit vor der Niederschrift der Vita Comlubae.

Heilige und Monster in den unterschiedlichsten Konstellationen gehören zusammen. Aufgrund der unterschiedlichen Darstellung der verschiedenen Ungeheuer ist es zudem äußerst unwahrscheinlich, dass die drei bisher zitierten Viten in irgendeiner Art aufeinander aufbauen. Dennoch tritt der Topos des Ungeheuers, das mit dem Heiligen so agiert, das dessen Heiligkeit offenkundig wird, klar vor Augen. Grundlage für all diese Arten von Monstergeschichten muss, wie fast überall im christlichen Kontext, die Bibel sein. Auch im Buch der Bücher finden sich an verschiedenen Stellen Ungeheuer – vor allem im Alten Testament. Hier sind es der Leviathan und Behemoth. Während letzteres vor allem ein Ungeheuer auf dem Land ist, (auch wenn es sich wohl um ein Flusspferd handeln muss), ist es der Leviathan, der für den Topos des Seeungeheuers interessant ist:

„Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wohlgeschaffen er ist. Wer kann ihn den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken, wie mit festem Siegel verschlossen. Einer reiht sich an den andern, dass nicht ein Lufthauch hindurchgeht. Es haftet einer am anderen, sie schließen sich zusammen und lassen sich nicht trennen. Sein Niesen lässt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken nächtigt die Stärke und vor ihm her tanzt die Angst. Die Wampen seines Fleisches haften an ihm, fest angegossen, ohne sich zu bewegen. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und wenn er hervorbricht, weichen sie zurück.Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoss und Speer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Spreu. Die Keule achtet er wie Stoppeln; er spottet der bebenden Lanze. Unter seinem Bauch sind scharfe Spitzen; er fährt mit Dreschschlitten über den Schlamm. Er macht, dass die Tiefe brodelt wie ein Topf, und rührt das Meer um, wie man eine Salbe mischt. Er lässt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar.“

Liest man den Text, kann es nicht verwundern, dass der einzige, der in der Lage ist, dieses Wesen zu besiegen Gott selber sein kann, denn „zu der Zeit wird der Herr heimsuchen mit seinem harten, großen und starken Schwert den Leviathan, die flüchtige Schlange, und den Leviathan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen im Meer töten“. Auffällig an den überleiferten biblischen Beschreibungen des Leviathan ist seine Uneindeutigkeit. Zahlreiche Attribute machen ihn laut der Beschreibung bei Hiob zu einem Krokodil, laut Hiob aber ist er eine Schlange. Dass der lateinische Begriff draco, wie er oben in der Georgs-Legende genutzt wird, sowohl Drache als auch Schlange bezeichnen kann, mach die Sache nicht einfacher. Als sicher kann aber gelten, dass die Heiligen in der Nachfolge Christi, die Macht haben, diese machtvollen Tiere zu besiegen. Ist mit diesem kurzen Exkurs nun geklärt, warum es ein Monster sein musste, dass besiegt wird, so stellt sich natürlich die Frage, warum es der Leviathan war, der hier Vorbild wurde und nicht der bereits erwähnte Behemoth.

Das wiederum hat mit den Ungeheuern der iro-schottischen Überlieferung zu tun, denn auch dort finden sich zahlreiche mystische Wesen, die sich vor allem auf die Seen und weniger auf das Land spezialisiert haben.

Eine besondere Rolle dabei spielen die so genannten water kelpies. Dabei handelt es sich um zauberhafte Wesen, die Menschen mit Versprechungen anlocken und sie auf ihrem Rücken reiten lassen. Sobald ein Mensch dieser Verlockung nachging, tauchten die Kelpies ab und zogen den Menschen auf den Grund ihres Sees.

V. Zusammenfassung

Tiere gehören in die reale und die vorgestellte Welt der Menschen des Mittelalters. Sie sind Akteure mit echten und symbolischen Aufgaben. Ihr Verhalten bringt die Menschen dazu, ihnen Eigenschaften zuzuschreiben, dann werden sie gemäß dieser Eigenschaften benutzt. Die Nutzung der Tiere kann dabei zum einen vollkommen normal und real sein, wie etwa eine Kuh, die Milch gibt, sie kann aber auch komplett durchdrungen sein von einer Vorstellungswelt, die von der heutigen abweicht – vor allem dann, wenn es um Aberglaube oder Glaube geht. Über Tiere im Mittelalter ließen sich ganz Bücher füllen. Hier gab es nur einen Parcours-Ritt über Grundlagen, Gegensätze und reale sowie symbolische Nutzung.

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