„Im endlosen Wechsel neuer Gestalten flicht die bildende Zeit den Kranz der Ewigkeit, und heilig ist der Mensch, den Glück berührt, dass er Früchte trägt und gesund ist.“
– Friedrich Schlegel
Auch der Wechsel von Kulturen, der sich in einer kompletten Übernahme einzelner Kulturelemente auf der Ebene des Potenzials ausdrückt, kann wie auch die Mischung von Kulturen auf prähistorische Vorbilder zurückschauen. Diese Tatsache verwundert kaum, wird in Betracht gezogen, dass die Domestikation von Tieren nur in seltenen Fällen in verschiedenen Regionen der Welt unabhängig voneinander geschah. Wesentlich öfter wurde diese neue entwickelte Kulturtechnik transportiert. Im Falle des Huhns von Südostasien nach Europa, Amerika und in den Pazifik, in anderen Fällen aus dem Zentrum Eurasiens in die Peripherie der großen Landmasse und weiter in die Gebiete des mediterranen Afrikas.
1. Das Schwein in Afrika – Anmerkungen zu einem alten Disput
Während dies als sicher angesehen werden kann für die Ziege, vereinzelt für das Schaf und ganz sicher für das Rind, ist die Frage beim Schwein nicht allzu leicht zu beantworten, denn wer sich mit der Geschichte der Schweinehaltung in Afrika befasst, begibt sich auf ein vermintes Feld. Seit über hundert Jahren herrscht über den Ursprung der Schweine in Afrika ein Disput, der manchmal sogar eine einzige Person dazu bringt, ihre Meinung zu ändern. Epstein macht das am Beispiel von Harry Johnston deutlich, „who had previously (1883) descripted the Congo pig as an ancient autochthonous domestic animal originally derived from Asia, wrote in a later work (1907) that the pig of western and south-western Congoland had come from Portugal“. Damit ist der Streitpunkt aufgetan: Entweder liegt der Ursprung des westafrikanischen Hausschweins, das ohne Zweifel mindestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts gehalten wird, in Asien, von wo aus sie bis ins Alte Ägypten gelangten, das zu einer Verbreitung der Tiere im restlichen Afrika beitrug, oder die Schweine sind durch portugiesische Seefahrer eingeführt worden. Hinzu kommt noch eine dritte Möglichkeit, die eine autochtone Domestizierung der Schweine in Afrika als Ursprung nennt.
Diese letzte Theorie wird bereits von Epstein verworfen. Zwar existieren Schweinerassen, wie oben genannt, die als Ausgangsform für eine Domestizierung in Frage kommen, jedoch hält er es für ausgeschlossen, dass in Afrika, wo keines der gehaltenen Tiere auch tatsächlich domestiziert wurde, sondern immer über Austausch und Kulturkontakte in Gebrauch kam, ausgerechnet des Schweins eine solche Behandlung erfahren haben soll. Zur Theorie der Herkunft aus Ägypten ist auf eine Kette von Möglichkeiten hingewiesen worden. Sie beginnt mit den bekannten Expansionsbemühungen Ägyptens in antiker Zeit nach Süden hin, die dafür sorgten, dass auf diesem Wege auch das Schwein nach Nubien kam. Das letzte Glied dieser Kette bilden die Handelskaravanen, die bereits im Mittelalter durch die Wüste gezogen waren, um auch in Westafrika Gewinne zu erzielen. Sie brachten dieses Schwein dorthin mit.
Für das Thema dieser Arbeit jedoch ist die Theorie der Herkunft aus Portugal wesentlich interessanter und sie scheint, wenn man die Reiseberichte der behandelten Zeit ansieht, auch plausibel. Zwar erwähnt keiner der untersuchten Texte einen direkten Transfer der Schweine von Portugal aus nach Afrika, im Gegensatz jedoch zu den Rindern, die dem europäischen Reisenden und Eroberern sofort auffallen, werden Hausschweine weder als Handelsgut eingesetzt noch in irgendeiner Form erwähnt. Andere Arten der Schweine jedoch nennt etwa Olfert Dapper, der davon berichtet, dass „die Jagd […] bei ihnen nicht vorgenommen [wird], sich zu ergötzen, sondern nur ihre Gewächse zu bewahren und das Wild auszurotten, sonderlich die wilden Schweine“.
Das Nichterwähnen von Schweinen scheint ein deutlicher Hinweis darauf zu sein, dass sie (noch) keine Rolle in der Kultur der Westafrikaner spielten. Wenn man tatsächlich davon ausgeht, dass durch arabische Karavanen Schweine nach Westafrika gebracht wurden, muss auch davon ausgegangen werden, wie es etwa im Fall der Pferde stattgefunden hat, dass die Tiere in die Kultur der Bevölkerung Eingang fanden. Dieses jedoch war nicht der Fall. Keiner der untersuchten Reiseberichte berichtetet von Schweinen in Westafrika. Das liegt nicht daran, dass die Berichterstatter ungenaue Darstellungen zum Haustierbestand liefern würden. Wie bereits vorher anhand anderer Tiere gezeigt, fallen diese sehr wohl auf und wurden aufgelistet. Schweine jedoch gehören nicht dazu.
Die wahrscheinlichste Erklärung dafür liegt wohl tatsächlich darin, dass diese Tiere erst später mit den Handelsposten und Siedlungen der europäischen Mächte ins subsaharische Afrika kamen und dort eine Verwendung fanden, die den einheimischen Afrikanern dann näher gebracht wurde und dazu führte, dass sie die Schweinehaltung übernahmen.
Gerade am Beispiel der Schweinehaltung in Afrika läßt sich demnach ein Wechsel im Potenzial verschiedener Kulturen ausmachen. Erst durch europäisches Eingreifen wird das Tier bekannt und seine Haltung übernommen, ohne das eine Anpassung dieser Haltung an vorhandene eigene Aspekte stattfindet, was nicht immer der Fall war, wie am Beispiel des Schweins in der Andenregion im vorherigen Kapitel verdeutlicht. Wenn das Schwein jedoch erst durch die Europäer nach Westafrika kam, dann ist sein Vorhandensein in Südafrika ganz auszuschließen – eine Vermutung, die durch die Quellen gestärkt wird, einzig wild lebende Schweine finden Erwähnung. So verweist Lichtenstein darauf, dass wilde Schweine im südlichen Afrika gegessen werden: „[D]ie Baasa in den Ebenen von Siré leben von dem Fleisch der Löwen, der wilden Schweine und selbst von Schlangen“. Diese Tatsache erstaunt nicht. Scheinbar ist die Schweinehaltung gar nicht nötig, denn „[e]s gab viele Arten von Antilopen, Quaggas und wilde Schweine in solcher Menge, daß die Jagd an manchen Tagen eine Beute von mehrern tausend Pfund Fleisch lieferte, welcher Vorrath sehr gut zu statten kam“. Bei einem solchen Übermaß an Fleisch durch wilde Tiere scheint die Schweinezucht unnötig.
John Barrow macht dieses noch deutlicher, wenn er über die Haustierhaltung bei den Xhosa schreibt, „[i]n the whole Kaffer country there is neither sheep nor goats, pigs nor poultry“. Und dieser Umstand scheint sich hier, anders als im portugiesischen Einflussbereich, auch nicht zu ändern, denn er bemerkt weiter,
„that the Dutch, being so fond of fat, should not pay more attation to increase the breed of hogs. Except a few, that are shamfully suffered to wallow about the shores of Table Bay, where, indeed they are so far useful as to pick up ead fish and butchers‘ offals, that are scattered along the strand, the hog is an animal that is scarely known as food in the colony“
Hier auf einen Kulturwechsel zu schließen, der von den Xhosa ausging und bei den Buren ankam ist durchaus möglich. Da diese keine Schweine benötigten, merkten auch die Niederländer, dass die Haltung von Schweinen keinen größeren Nutzen bringt. Nach den Beobachtungen zur fehlgeleiteten Domänenverteilung in dieser Region, die sich am Hund vollzog, scheint eine solche Vermutung zunächst abwegig. Sie läßt sich jedoch nicht ausschließen. Da sich die Verhältnisse zwischen Buren und Xhosa erst im Nachhinein verschlechterten, ist es denkbar, dass die kapniederländische Ignoraz des Schweinfleischs eine Spätfolge der Anfangszeit war, in der sie bemerkten, dass sie auch ohne Schweinefleisch auskommen konnten.
Im Vergleich zur Region Westafrikas, in der der Wechsel kulturellen Potenzials auf Seiten der afrikanischen Bevölkerung lag, zeigt sich am Kap der Wechsel im Verhalten der Europäer. Der Kontakt zu den Xhosa, der von Anfang an nötig war, damit die Buren überlebten, sorgt für eine Veränderung in der Vorstellung der europäischen Siedler, so dass sie der Schweinehaltung entsagen. Der Grund mag anfangs darin zu suchen sein, dass zu Beginn keine Schweine zur Verfügung standen, spätestens aber mit dem vermehrten Kontakt, der durch das Kap als Zwischenstation im asiatischen Schiffshandel zustande kam, wäre es möglich gewesen, Schweine nach europäischem Muster zu halten. Dieses blieb aber aus, was sich wohl nur durch einen Wechsel hin zur fremden Vorstellung der südafrikanischen Bevölkerung erklären läßt. Der Verzehr von Schweinefleisch ist aber nicht die einzige kulturelle Vorstellung, die von Europäern in Übersee aufgegeben wird, wenn es um ihr Verhalten zu Tieren geht.
2. Das Fremde verleitet – Kulturwechsel der Europäer
Während Hunde in Europa hauptsächlich als Jagbegleiter und Wächter eingesetzt wurden und in Asien, Australien und Teilen Amerikas auch als Nahrung galten, wurde in den nördlichen Polarregionen der Welt der Hund in ganz anderer Art genutzt. Schon Hans Egede hatte für Grönland vermerkt, dass man sich dort Hunde bedienen würde, „um ihre mit Seehunden beladenen Schlitten zu ziehen“. Er selber freilich schrieb an keiner Stelle, dass er sich auf diese Art fortbewegt habe oder Schlitten sonst genutzt hätte. Was für Grönland gilt, ist auch für Sibirien belegt. Immerhin konnte Vitus Bering (1681 – 1741), der von 1733 bis zu seinem Tod die Zweite Kamtschkaexpedition leitete, nach seiner ersten Espedition in dieses Gebiet 1725 bis 1730 behaupten, dass „[o]f domestic animals they have only the dog, which is used for driving, hauling, and for furnishing clothing“, wobei das Wort „driving“ in diesem Zusammenhang eine Fahrt auf einem Schlitten meint, der von Hunden gezogen wird.
Bering verweist lediglich auf diese Technik, wo Egede sie noch im Detail beschreiben muss. In späteren Zeiten macht Carl Heinrich Merck (1761-1799) nicht einmal mehr das. In seinem Fall kann dies damit zusammenhängen, dass er vor seinem Tod nicht mehr dazu kam, seine handschriftlichen Notizen zu ordnen und zu veröffentlichen. Jede Edition beruht daher auf seinen handschriftlichen, teilweise chaotischen Aufzeichnungen seiner Sibirenreise von 1788 bis 1791. Dennoch fallen in seinem Text Passagen auf, die erkennen lassen, dass für ihn Schlittenhunde keine Neuigkeit darstellen. Wie selbstverständlich finden sich bei ihm Sätze, in denen dies klar wird, denn „[d]as stück wiegt gefroren 8-9 Pfund, und mit 9 biß 10 Hunden fährt man 100 Stück“.
Was er jedoch sehr genau beschreibt ist das Verhalten, das die Einheimischen Sibiriens in Bezug auf ihre Hunde an den Tag legen. Dieses muss für europäische Augen dann doch sehr eigenartig anmuten. Die Einwohner Sibirens bereiten ihren Hunden Hundefutter zu: „Uiki [eine Fischart] (5-6 Zoll lang) kommen zu weilen im Juny ser häuffig nächst den Strand. Kommen sie in die Wade, so werden sie auf der Erde ausgebreitet zu Hundefutter getrocknet“.
Dieser Umstand ist für den Europäer Merck erstaunlich, denn eine Zubereitung von Hundefutter ist in Europa noch nicht üblich. Wenn man davon ausgeht, dass solch merklich Ungewöhnliches aufgeschrieben und oftmals wiederholt wurde, so verwundert es, dass Merck zwar die Zubereitung von Futter beschreibt, nicht aber eine Schlittenfahrt mit einem Hund. Diesen Umstand damit erklären zu wollen, dass Mercks Reise bereits am Ende des 18. Jahrhunderts stattfand und er somit vorhandenes Wissen voraussetzen kann, greift zu kurz. Schon in den Aufzeichnungen Johann Georg Gmelin (1709 – 1755), die dieser auf der Zweiten Kamschatkaexpedition Berings verfasst und in vier Bänden Anfang der 1750er Jahre publiziert hatte, findet sich keine Erwähnung einer Fahrt mit dem Hund. Dabei schreibt er durchaus detailliert Bräuche auf, die ihm merkwürdig erscheinen. So berichtet er lediglich von einem für ihn seltsam anmutenden Schwurbrauch, bei dem
„ein Feuer angemacht [wird], und bei demselben ein Hund vor den Kopf geschlagen, daß er davon todt zur Erde niederfällt. Dieser Hund wird auf das Holz gelegt, davon das Feuer brennt; aber an dem Orte, da derselbe hingelegt wird, muß doch das Feuer brennen. Der Hund wird so fort in die Gurgel geschnitten, und ein Gefäß darunter gesetzt, daß das Blut darein auslaufe. Unterdessen thut der Beschuldigte, um seine Unschuld zu zeigen, einen Schritt über das Feuer und säuft gleich darauf ein paar Schlücke von dem ausgelaufenen Geblüt aus, das übrige Blut wird in das Feuer gegossen, und zu gleicher Zeit der Hund auf ein Gerüst bei der Jurte in die freie Luft gelegt, und der Schwörende spricht: so wie dieses in das Feuer gegossene Blut brennt, so wünsche ich daß das jenige, was ich hinunter getrunken habe, in mir brenne; und wie dieser auf dem Gerüst liegende Hund mit der Zeit zusammen schmoren wird, so will auch ich zusammen schmoren, wann ich an diesem oder jenem Schuld habe“.
Der Grund für eine fehlende Beschreibung einer Schlittenfahrt liegt in einer Übernahme der einheimischen Tradition, die sich auf der Expedition zugetragen hatte. Die schiere Dauer der Reise und der Umstand, dass auch erfahrene Sibirienreisende dabei waren, mag dafür gesorgt haben, dass sich die Fahrt mit den Hunden zu einer Angelegenheit etablierte, die als selbstverständlich und nicht berichtenswert betrachtet wurde. Dazu kommt wohl der Umstand, dass sie ohne Probleme funktionierte. Im Gegensatz dazu zählt Gmelin oft genug auf, dass das Reisen zu Pferd Probleme machte, angefangen mit dem Nichtvorhandensein der Tiere über das Problem des Sattelauflegens bis hin zur ihrer völligen Erschöpfung. Das Potenzial, das in der Verwendung von Hunden als Zugtieren liegt, wird von Merck, Gmelin und anderen Sibirienreisenden übernommen, so dass sich für sie deren Nutzung als Selbstverständlichkeit erweißt.
Während in Sibirien das Potenzial einer Kulturtechnik und sie selber übernommen wurde, fällt auf, dass in anderen Teilen der Welt gerade der Wegfall europäischer Traditionen in Bezug auf Tiere den Wechsel von kulturellem Potenzial auszeichnet. Dieses zeigt sich vor allem in Nordamerika. Den amerikanischen Ureinwohnern war etwa die Bienenhaltung unbekannt, obwohl Bienen nichts Unbekanntes darstellten. So berichtet James King auf der dritten Reise James Cooks in seinen Notizen im Nootka Sound in British Columbia, dass es „there a different sort of flies, the large Bee & Butterfly“ gebe, doch weder scheinen diese weit verbreitet noch in irgendeiner Art kultiviert zu sein. Wie auch in Süd- und Mittelamerika wird der Honig gerne gegessen, doch eine Möglichkeit dabei nicht das Nest zu zerstören, hatte sich nicht entwickelt. Die Tatsache, dass die Bienen der neuen Welt nicht zu der in Europa bekannten Art apis mellifica gehörten, sorgte 1638 für eine Einfuhr der Tiere nach Neuengland. Mit einem solchen Import verband sich die Hoffnung, die Tiere dort zu züchten und so dauerhaft an Honig zu gelangen. Die Entwicklung ging aber in eine andere Richtung. Die Bienenvölker verwilderten und verbreiteten sich in Nordamerika recht stark. Sie wurden als Tiere erkannt, die europäischer Abstammung waren, wie Paul Dudley 1720 berichtet: „The Aborigines (the Indians) have no word in their Language for a Bee, […], and therefore for many Years called a Bee by the name of English Man’s Fly“.
Diese Verbreitung und die Haltung der Bienen jedoch war schwer, so dass die Haltung aufgeben wurde und die Siedler wieder auf Wildhonig zurückgriffen. Erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts machte man sich erneut auf, die Bienenvölker zu halten und nicht bloß auf den Wildhonig zurückzugreifen, wie es Dudley beschreibt. Dieses Konzept scheint sich bewährt zu haben, da Mittelberger 1750 über Pennsylvania berichten konnte: „Sie haben […] viele Bienen“.
Überhaupt gibt Mittelbergers Bericht über die Kolonie Pennsylvanien einen Einblick über das Leben der Siedler und ihren Umgang mit Tieren, wie bereits am Beispiel der Truthühner deutlich geworden sein sollte. Er hält daher über den Handel mit Tieren in Philadelphia fest:
„Die Handlung dieser Stadt und des Landes nach anderen Ländern und Kolonien vermehrt sich jährlich merklich und besteht mehrenteils in Früchten, Mehl, Welschkorn, Tabak, Honig, vielerlei Wildhäuten, mancherlei kostbaren Pelzwerk, Flachs und sonderheitlich sehr vielen Flachs- oder Leinsamen, auch fein geschnittenem Holz, Pferden, allerhand zahmen und wildem Vieh. Dagegen bringen die von ferne kommenden Schiffe allerhand Güter ein, als: allerlei Weine, spanischen, portugisischen, deutschen, wovon die Maß des besten einen Reichstaler, und des geringsten einen Gulden kostet. Ferner Gewürz, Zucker, Tee, Kaffee, Reis, Rum, das ist ein Branntwein aus zucker gebrannt, Mallafis; fein porcellanene Gefässe, holländisch und englische Tücher, Leder, Leinwand, Zeuge, Seidenwaren, Damast, Sammet und dergleichen“.
Ersichtlich wird aus diesen Zeilen, dass die Siedler autark agieren können und weder auf die meist recht luxuriösen Importgüter Europas noch auf die Hilfe bzw. den Umgang mit den Ureinwohnern angewiesen sind. Mittelberger kann jedoch auch feststellen, dass ein solcher Umgang auch zu Beginn nicht üblich war.
„Daß es auch den Anfängern in diesem neuen und wilden Lande sehr hart ergangen, ist wohl zu glauben, denn diese kleine Herde mußte wegen der damaligen vielen umschwebenden Indianer oder Wilden noch in großer Furcht schweben, sehr vieles, ja fast alle Hantierungen haben ihnen gemangelt; die Saat-Früchte mußten sie alle einhacken wegen Ermangelung der Pferde und des Viehs“.
Dem aufmerksamen Beobachter Mittelberger entgeht auch nicht, dass es in Pennsylvania zwei Arten gibt, mit Vieh und Pferden umzugehen. Zum einen beschreibt er so äußerst detailliert die Grenzziehung zum Schutz der Schafe, wohl zur Absicherung vor Wildtieren:
„Solche Waldungen werden hernach durch diese Umkehrung zu Äckern und Wiesen angelegt. Aus dem besten abgehauenen Holz macht man Finzen oder Zäune um die neuen Felder, denn darin werden alle Wiesen, Gras- und Obstgärten und Fruchtfelder mit übereinander gesetzten Planken umgeben und eingemacht, worin man das Rindvieh, Pferde und Schafe auf der Weide eingeschlossen hält“.
Auf der anderen Seite jedoch scheinen viele Waldgebiete schon so von Wildtieren und anderen Gefahren befreit zu sein, dass man in Pennsylvania etwa auf Hirten verzichten konnte: „Man bedarf auch deswegen in dieser ganzen Provinz keines Schafs- noch Viehhirten, darum, weil man alles Vieh teils in den eingemachten Feldern, teils in Wäldern gehen läßt, wo es Futter genug findet, und an manchen Orten überdies noch vieles verdirbt“.
Beide Zitate machen vor allem deutlich, dass ein Kontakt mit den Einheimischen nicht gewünscht wird, wie im Fall der Zäune, der eben nicht nur Wildtiere abhalten soll, sondern auch etwaige Übergriffe menschlicher Angreifer, oder das dieser Kontakt gar nicht mehr möglich ist, weil die Einheimischen vertrieben wurden oder aus eigenem Antrieb, wenn auch notgedrungen, wegzogen. Interkulturelle Kommunikation egal welcher Form mit der indigenen Bevölkerung ist so nicht möglich. Dennoch ist es in der neuen Welt zu einer Änderung gekommen. In allen Berichten fällt auf, dass das Kleinvieh vor allem zum Verzehr genutzt wurde. Das mag im Fall der Ziege nicht überraschen, bei der vielfältigen Nutzung der Schafe in der europäischen Tradition jedoch durchaus. Auch für dieses findet sich bei Mittelberger eine Beschreibung. Denn abgesehen von der Vielzahl der Schafe, die in früheren Zeiten genutzt wurde, kann er zudem bemerken, dass „[d]ie Schafe, die größer als die deutschen sind, […] jährlich mehrenteils zwei Lämmer [haben]“.
Größere Schafe deutet daraufhin, dass die Tiere entweder gezielt auf einen höheren Fleischgehalt hin gezüchtet wurden oder aber die Witterungsbedingungen die größeren und robusteren Tiere überleben ließen, denn „zur Winterszeit ist vielmals eine solche penetrante Kälte, und zwar so schnell, daß Menschen und Vieh, auch die Vögel in der Luft erfrieren möchten“, schreibt erneut Mittelberger. Beide Möglichkeiten, die einander nicht ausschließen, führen in letzter Konsequenz jedoch vor allem zu einem Nutztier, das zum Verzehr viel eher geeignet ist, als zum Produzieren von Wolle, die durch die ausgezeichneten klimatischen Bedingungen in Amerika an den Bäumen wächst und daher das Schaf in diesem Bereich abgelöst hatte.
Der Umgang mit beiden Tierarten macht deutlich, dass es nicht unbedingt der Umgang mit einer fremden Kultur sein muss, der kulturelle Potenzialwechsel verursacht, vielmehr ist es in den gezeigten Beispielen aus Nordamerika die Umwelt, die dafür sorgt. Dennoch handelt es sich um einen Fall von interkultureller Kommunikation zwischen zwei Kulturen – jedoch um einen indirekten. Die Umweltbedingungen Nordamerikas waren für die Kultur der einheimischen Bevölkerung auch ausschlaggebend. Wenn jene dazuführen, dass sich diese in der Art entwickelten, wie sie es taten, dann ist auch sie der Grund dafür, warum sich die europäischen Siedler anpassten, was Bienen und Schafe anging. Auch die Komponente der Zeit darf nicht außer acht gelassen werden. Mögen sich die Siedler Pennsylvaniens auch von den Einheimischen Mitte des 18. Jahrhunderts abgrenzen, das galt nicht für die Anfangszeit. Gerade in dieser Gründungphase mag der Kontakt mit der indigenen Bevölkerung die Weichen für eine solche Potenzialänderung gelegt haben, selbst wenn dieser Kontakt ungewollt war.
3. Das Eigene versagt – Wechsel außereuropäischer Kulturen
Kontakt sorgte aber nicht nur auf europäischer Seite für kulturelle Wechsel. Weit eindringlicher waren die Begenungen zwischen Europa und der Welt sicherlich für die Menschen der außereuropäischen Welt. Auch hier ist es erneut das Schaf, dass dieses in zwei frühen Beispielen deutlich machen soll. Für Japan etwa ist die Herkunft dieser Tiere klar umrissen, wie Engelbert Kaempfer weiß:
„Schafe und Ziegen sind vor Zeiten von den Europäern nach Firando gebracht, woselbst man auch noch ihr Geschlecht unterhält. Sie würden im ganzen Reiche gute Bergweide finden, und mit Nutzen können angezogen werden, wenn man die Wolle gebrauchte, oder das Fleisch genießen dürfte“.
Folgt man Kaempfers Einschätzung existierte in Japan keine eigenständige Schaf- und Ziegenzucht und tatsächlich existiert dort weder ein natürliches noch ein in prähistorischer Zeit importiertes Tier aus dieser Familie, so dass alle Tiere aus europäischem Import im Zeitraum der europäischen Expansion nach 1500 stammen müssen.
Der Grund für diese Einfuhr liegt auf der Hand. Ähnlich wie in anderen Teilen der Welt wird zunächst davon ausgegangen worden sein, dass Europäer zu versorgen sind. Diese Tradition etablierte sich vor allem auf portugiesischer Seite. Die ersten Entdeckungsfahrten unter der Ägide von Heinrich dem Seefahrer waren oftmals dazu ausgerüstet, spätere Fahrten zu erleichtern. Dazu gehörte auch das Aussetzen von Ziegen auf unbekannten Inseln, um Verpflegung für die späteren Mannschaften sicher zustellen.
Genau diese Portugiesen waren es auch, die als erste Europäer 1542 japanischen Boden betraten und damit wohl später auch weitere Fahrten begründeten. Dass sich aus dieser Verpflegungsintention auch Tausch und Handel entwickelten ist verständlich, zumal wenn man die Worte Kaempfers bedenkt, der die von ihm beschriebene Region als perfekt für Schaf- und Ziegenzucht beschreibt. Dieser Umstand war den Japanern selber nicht verborgen geblieben, so dass sie selber begannen die Tiere weiter zu züchten. Dabei zeigt sich im Gegensatz zum Kaninchen, dessen Import zuvor ausgeschlossen worden war, ein klassischer Fall einer Übernahme von Potenzial, da die Nützlichkeit der Tiere auf Seiten der Japaner erkannt und forciert wurde. Beim Kaninchen hingegen war dies nicht der Fall gewesen.
Eine solche Übernahme findet sich auch erneut am Kap der Guten Hoffnung, der Südspitze Afrikas. Im vorherigen Kapitel wurde bereits angedeutet, wie sehr die Einfuhr der Schafe diese Region vom restlichen Afrika unterschied, wo wesentlich öfter Ziegen anzutreffen waren. Die Einfuhr der Schafe ans Kap sorgte jedoch auf afrikanischer Seite für den besonderen Wunsch nach diesen Tieren. Dieser Umstand erklärt sich aus einem Mangel und dem Wunsch, Neues zu besitzen. Das Schaf ist auf dem afrikanischen Kontinent nicht heimisch gewesen, sondern wurde in prähistorischer Zeit vor allem nach Ostafrika gebracht.
Dort etablierte sich das Dickschwanzschaf, das bereits auf den Reisen Vasco da Gamas beschrieben wurde. Er hielt fest, dass etwa in der Region des heutigen Angolas „Schafe mit großen Schwänzen, in denen kein Knochen ist und der Schwanz ist dicker als das halbe Schaf“ existierten. Diese domestizierten Tiere waren auf dem afrikanischen Kontinent noch sehr neu und längst nicht überall verbreitet. Die frühneuzeitliche Einfuhr dieser Tiere durch die Europäer scheint ein Begehren nach ihnen geweckt zu haben, dass sie zu besonders prestigeträchtigen Tieren machte.
Diese Bedeutung der Schafe ist auch noch dreihundert Jahre später präsent. Die bereits erwähnten Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Siedlern und den einheimischen Südafrikanern führten nicht nur zu weiteren Streitigkeiten. Teilweise wurden lokale Friedensverträge geschlossen deren wichtigster Bestandteil Schafe waren, wie Lichtenstein zu berichten weiß:
„Die kleinen Horden, die noch übrig geblieben sind, stehen mit dem Bokkeveld in friedlichen Verhältnissen und man giebt ihnen jährlich einen gewissen Tribut an Schafen, wofür sie sich ruhig verhalten. Der Veldcornet, Jan Gideon Louw, der Vetter unseres Wirths, hat um diesen Frieden besondere Verdienste. Er brachte im Jahr 1798 eine Collecte von 460 Schafen und Ziegen von den Bokkevelds-Colonisten zusammen, die den Bosjesmans geschenkt wurden [Hervorhebungen im Original]“.
Die hier aufgezeigte Übernahme von Potenzial ist eindeutig. Nicht bloß durch den Raub der Schafe, den auch schon Captain Cook erlebte, auch durch den Kontakt der Buren mit dem Volk der San ist diesen deren Verwendung der Schafe bewußt. Als logische Konsequenz daraus wurde in den Friedensverhandlungen ein Tribut festgesetzt, der eben diese Tiere beinhaltet. Dabei ist tatsächlich genau zwischen den Völkern Südafrikas zu unterscheiden. Einen solchen Vertrag mit den Xhosa auszuhandeln wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich gewesen. Zu deren Volk konnte John Barrow nämlich bemerken, dass „[n]ot a sheep nor a goat were to be seen. The Kaffers, in fact, never breed any of these animals“, und das obwohl „[t]he grasses on the summit are short but sweet, and the small shrubby plants are excellent food for sheep and goats“. Der Wechsel innerhalb der Schafskultur vollzieht ich hier auf Seiten der San, die sich auf die neuen Tiere einlassen und auf dieser Ebene zu Vertragspartnern der Europäer werden.
Auseinandersetzungen um Vieh gab es aber nicht nur in Südafrika. Auch zwischen den Europäern, die in Nordamerika siedelten, und der dortigen einheimischen Bevölkerung kam es schon recht früh zu solchen Problemen. Der Ausgangspunkt des Streits waren hier jedoch nicht Schafe sondern Schweine, die von den Spaniern auf dem Nordkontinent maßgeblich verbreitet wurden. Ferdinand de Soto (1496-1542) brach von der Karibik auf, um Florida zu erkunden, und brachte „manie hogges“ von dort mit. Hauptziel war sicherlich, wie Crosby schreibt, dass er „used them for food only in dire emergency“, aber das Resultat dieses eingeschränkten Nutzens („and thus had seven hundred at the time of his death three years later“) verweist darauf, dass so Schweine in großer Zahl verbreitet wurden. Dieser Umstand war den Spaniern sehr wohl bewußt, denn
„[t]he Gouernour inuited the Cacique, and certaine principall Indians, and gaue them hogges flesh to eate. And though they did not commonly vse it, yet they were so greedie of it, that euery night there came Indians to certaine houses a crossebow shot from the Camp, where the hogges lay, and killed, and carried away as many as they could.“.
Diese Episode endet, als drei Mitglieder vom Stamm der Cacique gefasst wurden, für zwei von ihnen tödlich, für den dritten wurde befohlen „to cut off the hands“ und man „sent him so handled to the Cacique“.
Die hier beschriebene Art der Übertragung des Schweinefleischessenes, die sich letzlich wiederum auf die Europäer auswirkt, die nunmehr Diebstähle ihrer Schweine befürchten müssen, ist kein Einzelfall. Auch für die Choptico und die Mohegans ist dies belegt. Daniel Gookin (1612 – 1687) beobachtete bei den letztgenannten, dass „[t]hey used to oil their skins and hair with bear’s grease heretofore, but now with swine’s fat“.
In beiden Fällen hat die Einfuhr des Schweins zu Veränderungen im Verhalten der Ureinwohner geführt. Grundlegende Kulturtechniken in Bezug auf Nahrung und Kleidung wechseln. Die Choptico, die vorher nie Tiere gehalten und gezüchtet haben, sehen in diesen Tieren nun ein Potenzial und beginnen, nachdem sie diese Technik bei den Europäern sahen, nun Schweine zu halten.
Der gravierenste Eingriff, der zu einem Kulturwechsel führte war aber sicherlich die Einfuhr von europäischen Nutztieren nach Südamerika. Während der Calvinist Jean de Lery in seiner präzisen Beschreibung Brasiliens kaum domestizierte Tiere ausmachen konnte, fallen dem Deutschen Caspar Schmalkalden (1616 – 1673), der im Dienst der Niederländer stand, rund neunzig Jahre später ab 1642, sehr wohl Rinder auf:
„Es gibt zweierlei Zuckermühlen, nämlich Wasser- und Ochsenmühlen: Die Wassermühlen sind am bequemsten, wenn nur Gelegenheit ist, dieselben zu bauen. Sie mahlen viel geschwinder und mehr Zuckerrohr als die Ochsenmühlen. Letztere hingegen kosten nicht viel und können überall hingebracht werden, es müssen aber allzeit etliche Ochsen dabei gehalten werden“.
Innerhalb des genannten Zeitraums hat sich die Lebensweise der Brasilianer, selbst wenn man beachtet, dass Schmalkalden hier nicht von den Tupinamba Lerys spricht, geändert. Der Einfluß der europäischen Siedler und Eroberer ist deutlich geworden. In diesem Zeitrahmen ist nicht nur erfolgreich das Rind nach Amerika übergesiedelt worden, auch wurde es von der indigenen Bevölkerung in die eigene Kultur integriert. Das ist besonders erstaunlich, da die Brasilianer der Provinz Paraiba die siedelnden Portugiesen, in den Worten Schmalkaldens, „über alle Maßen“ hassen und von diesen „wiederum gehasst“ werden „als treulose, undankbare und leichtfertige Leute“. Das Verhältnis war wohl, selbst wenn Schmalkalden übertreibt, durchaus spannungsreich, was jedoch dennoch dazu führte, dass der Kulturträger Rind nach Brasilien eingeführt und als Arbeitstier in einem europäischen Sinne genutzt wurde.
Schmalkaldens Bericht läßt dabei an einer Stelle besonders aufhorchen. Obwohl die Ochsen zunächst angeschafft und im Anschluß daran gefüttert werden müssen, stellen die von ihnen betriebenen Mühlen die günstigere Variante dar. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass sowohl die Anschaffung der Rinder als auch deren Versorgung relativ preiswert ausfällt. Da die Nachfrage nach Zucker hoch ist und die Möglichkeiten der Wassermühlen vom Standort abhängt, muss daher eine hohe Nachfrage nach Mühlen und Ochsen bestanden haben. Es darf also vermutet werden, dass das Angebot von Ochsen und auch von Heu so reichhaltig war, dass „etliche Ochsen“ ohne finanzielle Probleme gehalten werden konnten. Dieser Umstand hatte sowohl mit dem Klima als auch der Landschaft Brasiliens zu tun, die ideal für Viehhaltung geeignet ist.
Die Einwohner Brasiliens hatten erkannt, dass die Rinderhaltung für sie nützlich sein könnte, gerade auch im Umgang mit den für sie fremden Europäern. Wenn allerdings auch die Arbeitskraft der Tiere geschätzt wurde, als Nahrung dienten die Tiere nur wenigen Stämmen Brasiliens. Schmalkalden verzeichnet einzig, dass in der Provinz Rio Grande Rindfleisch verzehrt wurde, in anderen Gebieten jedoch Vieh zwar gehalten, nicht aber gegessen wurde. In Brasilien ernährten sich die Menschen nämlich von „allerhand Wildbret, Fischen, Krabben, wohl auch etlichen Schlangen“.
Diese rasante Entwicklung der Rinderhaltung kann Schmalkalden auch in Chile festmachen, wenn ihm auch vieles noch nicht bewußt ist. Dort nämlich wurden die niederländischen Seefahrer und Söldner von den Anführern der Stämme mit „etlichen Stück Vieh“ beschenkt. Das zeigt, dass auch hier bereits eine große Anzahl von Rindern existieren musste, die dennoch als Geschenke einen Wert hatten. Der natürliche Umgang mit diesen Tieren, freilich auch mit anderen importierten, führt für Schmalkalden zu einer paradoxen Situation. Dieses durch einen Potenzialwechsel Geschaffene wirkt für ihn so natürlich, dass er seine Beschreibung Chiles mit den Worten schließt:
„Es gibt auch allerhand zahmes Vieh darinnen wie in Europa, so Pferde, Kühe, Schweine, Ziegen, zweierlei Schafe, Hunde und Katzen. Anfangs, als die Spanier dieses Land eingenommen, sollen weder von solchen Früchten [gemeint sind europäische, die er vorher erwähnt] noch dergleichen Vieh darin gewesen sein, sondern alles ist von Zeiten zu Zeiten aus Spanien hineingebracht und dort fortgepflanzt worden“.
Die Verwendung des Modalverbs „sollen“ deutet auf einen gewissen Unglauben Schmalkaldens hin. Da er dennoch in der Wirklichkeitsform schreibt, weiß er wohl um den Umstand des Imports, glauben mag er es aber kaum.
In einer ganz anderne Region der Welt, wesentlich weiter östlich auf der Nordhalbkugel, innerhalb der russischen Expansion übernahmen Europäer nicht nur Vorstellungen der Einheimischen, wie zu Beginn des Kapitels erläutert wurde, auch die Einheimischen Sibiriens wechselten kulturelle Potenziale. Dabei ist aber entscheidend, dass in diesem letzten Beispiel der Prozess ein anderer ist. Kann in den oben beschriebenen Fällen vor allem davon ausgegangen werden, dass der Wechsel durch die aufnehmende Kultur eingeleitet wurde, zeigt sich am Beispiel der Bienenhaltung in Sibirien ein anderes Bild. Simon Pallas kann, als er in Baschkirien Halt macht, in seinen Berichten für den 16. Mai 1770 festhalten:
„Man treibt hier starke Bienenzucht, so daß einige gegen vierhundert Stöcke im Walde zerstreut besitzen und jährlich vierzig oder mehr Pud Honig gewinnen. Ihre Art mit den Bienen umzugehen ist völlig die Baschkirische. Sie höhlen die Stämme von allerley Bäumen, am liebsten aber von solchen, welche hartes Holz haben, zu Bienenstöcken aus, und suchen dazu im Walde die stärksten und geradesten aus […]. Unter den dem Bienengehäuse werden alle Zweige und Auswüchse sorgfältig weggehauen, um denen Bären das Hinaufklettern schwer zu machen. Dem ungeachtet geschieht durch diese in den ralischen Wäldern noch ziemlich häufige Thiere viel Schaden an den Bienenstöcken und man bedient sich deswegen allerley Mittel um selbige abzuhalten und zu zerstöhren […]. Ein anderer Feind der Bienenstöcke ist der Schwarzspecht, welchen man durch allerley Dornen und Reisig, womit die Stöcke umwunden werden, so viel möglich abzuhalten sucht. Endlich so glauben die Tartaren auch, daß es Leute giebt, deren Anblick den Bienen schadet. Sie hängen deswegen, besonders an die Stöcke, welche sie bey ihren Häusern halten, einen Pferdekopf, oder Fuß oder anderen Knochen, damit das Auge zuerst auf diese Dinge falle, wodruch nach ihrer Meynung der schädliche Einfluß der zauberischen Anblicke abgeleitet wird“.
Pallas‘ Beschreibung macht deutlich, wie tief Bienen und Honig in der Kultur der Einheimischen verankert sind. Nicht nur im Wirtschaften mit den Tieren auch in der Abwehr der Fressfeinde bedienen sich die Baschkiren eines breiten Repertoires an Mitteln. Pallas letzte Information zeigt eine Verbindung der Bienen hin in religiöse Vorstellungen. Es ist daher verwunderlich, dass er bei seinen weiteren Reisen durch die Regionen des südlichen russischen Reichs bemerken kann:
„Ich sahe hier zum letzenmale einige Anlagen zur Bienenzucht, welche auch die tschebarkulskischen Kasaken nicht versäumen. Weiter ostlich und durch ganz Sibirien findet man dergleichen, auch unter den Baschkiren, nicht mehr, obwohl die Bienen unter dieser Breite und in denen südlicheren Gegenden Sibiriens recht wohl fortkommen könnten, wie denn dergleichen in dem viel nordlicher und ostlicher gelegenen Tobolsk von einigen Liebhabern gehalten zu werden anfangen“.
Die Tatsache, dass auch die vorher als sehr an ihrem Honig und an ihren Bienen hängenden Baschkiren in diesen Regionen, in denen Bienen nicht auf natürliche Weise vorkommen, keine Bienenhaltung betreiben, zeigt, dass die tiefe Verwurzelung gar keine solche tiefen Spuren hat, wie vermutet. Eher scheint es hier, ähnlich wie beim Rind in Südamerika, um eine Einfuhr dieser Tradition und des mit ihr in Verbindnung stehenden Potenzials zu handeln. Dieses Potenzial der Bienenzucht jedoch wurde durch die Expansion des russischen Reichs nach der Eroberung Sibiriens dorthin transportiert, so dass hier eine Übermittlung dieses kulturellen Potenzials stattfand, das jedoch noch nicht in die Regionen vorgedrungen ist, deren Beschreibungen und Erforschung letztlich Pallas Anliegen war. Der Transport der Bienen in das Gebiet jenseits des Urals galt jedoch nicht, wie der Transport der Tiere über den Atlantik, europäischen Siedlern, er galt den einheimischen Völkern selbst, so das dieses letzte Beispiel einen Wechsel zeigt, der von der übergebenden Kultur gefördert wird.