Krankheit, Pest und die Arbeit des Historikers in Corona-Zeiten

Es ist April 2020. Durch einen unbekannten Virus wird das öffentliche Leben lahmgelegt. Ich, der Historiker, habe viel Zeit und lese mich durch so manches philosophische und historische Traktat. Die in den Medien propagierte Unvergleichbarkeit der Situation entlockt mir ein Lächeln. Wer sich mit der Geschichte auskennt, weiß, dass Seuchen und Krankheiten von jeher das Leben der Menschen geprägt haben.

In Herne besuchte ich noch kurz vorher das LWL-Museum für Westfälische Landesgeschichte und schaute mir gemeinsam mit meiner Frau die Pestausstellung an. Einer alten Gewohnheit folgend kaufte ich den knapp 700 Seiten starken Katalog zur Ausstellung, denn wie es sich für ein landeshistorisches Museum gehört, kommt auch die Regionalgeschichte in der Ausstellung vor. So erfährt man vom Erleben der Pest im Dortmund im Jahr 1349, die von Johann Nederhoff in seiner Chronik festgehalten wurde: Die Pestepidemie „war so schrecklich, dass die Lebenden kaum die Toten bestatten konnten und an vielen Orten kaum ein Drittel der Menschen übrig blieb“. Aus der Chronik kann man auch entnehmen, dass die Pest dort am schlimmsten wütete, wo sich am meisten Menschen aufhielten, an den Hauptverkehrsstraßen der damaligen freien Reichsstadt Dortmund.

Keine zweihundert Jahre später ist die Pest wieder da. Aus dem Köln der Jahre 1540 und 1541 berichtet Hermann von Weinsberg. Er, der wohlhabende Bürger, ist von der Angst zu sterben getrieben und verlässt seine Heimatstadt für längere Zeit, denn das hatten ihm die Ärzte geraten. Aus Angst vor Ansteckung besucht er einen Verwandte, der sich bereits identifiziert hat, nicht, sondern schickt nur einen Brief. In seiner Chronik reflektiert er sein Verhalten, denn obwohl er sich selber rettet, plagt ihn das Gewissen, den kranken Verwandten im Stich gelassen zu haben.

Während Hermann in Sicherheit außerhalb der Stadt war, kamen andere, vor allem kirchliche Pfleger gerade jetzt nach Köln und halfen den Kranken. Ein Bild zeigt den noch unfertigen Dom der Heiligen Stadt. Im Vordergrund knien zwei Männer bei einzelnen Kranken. Einer der beiden hält sich einen weißen Stoff vor Mund und Nase. Die Stadt wirkt wie ausgestorben, kaum Menschen finden sich auf diesem Bild.

Der Grund dafür mag darin liegen, dass die Städte Verordnungen erlassen hatten, die es verboten, das Haus zu verlassen. Die italienische Stadt Bologna ging dabei am weitestes und verbot bei Todesstrafe den Kontakt miteinander und auch das Beziehen von Waren aus Köln und Düsseldorf. Aus Münster ist eine solche Pestordnung des frühen 17. Jahrhunderts überliefert. Der erste Punkt dieser Verordnung ist klar: Die Erkrankten dürfen, außer vom Pflegepersonal der Kirchen, von niemandem besucht werden. Die Bettler der Stadt wurden nun an einem zentralen Ort mit Brot versorgt, damit sie nicht, wie sonst üblich, von Tür zu Tür gingen.

Ich schlage den dicken Katalog zu. Vieles kommt einem nach sechs Wochen Coronakrise vertraut vor. Weiße Tücher vor dem Gesicht, Ausgangssperren für Erkrankte, keine Besuche, die Flucht aus der Stadt. Nur die Zahlen der Toten passen nicht. Im 14. Jahrhundert starben zwei Drittel der Bevölkerung von Dortmund an der Pest, Corona hat es nicht mal auf ein Prozent geschafft.

Eine Frage geht mir durch den Kopf: Ob es solche Verordnungen wohl auch für das Wuppertal gab? Sicherlich nicht. Elberfeld und Barmen waren keine oder zumindest keine großen Städte, denn Elberfeld besaß seit 1610 das Stadtrecht. Die Orte waren eher dünn besiedelt und kaum dürften sich solche Dokumente erhalten haben. Aber Auswirkungen dürfte man hier dennoch gespürt haben. Wie sehr würde ich gerne in die Stadtbibliothek gehen und in den Zeitschriften des Bergischen Geschichtsvereins nach Hinweisen und Dokumenten suchen. Mindestens eine Chronik aus dem 18. Jahrhundert, meine ich mich zu erinnern, beschreibt das Leben in Oberbarmen während des 7jährigen Krieges. Darin war doch auch ein Abschnitt über Krankheiten. Ich muss fluchen. Hätte ich doch damals, als ich diese Chronik in der Hand hatte, eine Kopie gemacht. Jetzt ist die Bibliothek zu und man kommt nicht an die Bücher.

Also muss die eigene Bibliothek herhalten. Der 30jährige Krieg ist für das Bergische Land und das Wuppertal recht gut dokumentiert, auch in meiner eigenen Bibliothek. Zwischen 1634 und 1637 brach die Pest über Barmen herein, ihr folgte die Rote Ruhr, die auch 1638 noch einmal wiederkam. Anders als in der Zeit davor, war an Verordnungen und Pflege im Krieg nicht zu denken. Der Durchmarsch der Truppen machte städtische oder herrschaftliche Ordnungsversuche zunichte. Dennoch gab es natürlich eine Verwaltung. Diese hatte mit großen finanziellen Einbußen zu kämpfen. Ein Beispiel dafür liefert Schwelm, das dazu überging, seine Bürger so sehr zu besteuern, dass diese nach dem Pestzug 1635/36 ihre Stadtoberen beim Kurfürsten verklagten. Dabei ging es nicht nur darum, zu hoch besteuert zu werden, sondern auch darum, dass die Freunde und Mitglieder des Stadtrats sich selber verschonten.

Die Ergebnisse sind zwar interessant, aber doch zu wenig, denke ich. Bei meinen Recherchen bin ich auf einen Vergleich von Corona mit der Spanischen Grippe von 1918 gestoßen. 20 Millionen Menschen sind an dieser Krankheit weltweit gestorben – mindestens. Zwei der bekanntesten Opfer: Der Soziologe Max Weber und der Großvater von Donald Trump, Friedrich. Dazu muss es doch Spuren geben, bin ich überzeugt. Anruf im Kirchenkreisarchiv. Die Beerdigungsbücher der Kirchen zeigen auch immer auf, woran die Menschen starben. Gab es ab November 1918 mehr Influenza-Tote als im Jahr davor? „Sie können nicht kommen. Wir können die Absatndsregel nicht gewährleisten,“ sagt mir die Leiterin des Archivs freundlich, aber bestimmt. Da die Spanische Grippe als Phänomen weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist, haben sich auch die Überblickswerke zur Geschichte Wuppertals kaum damit beschäftigt. Also doch keine Informationen zur Spanischen Grippe bei uns hier vor 100 Jahren?

Doch! Nicht alle Bücher der Kirchengemeinden sind im Archiv gelandet. Anruf bei der Hüterin der Nächstebrecker Kirchenbücher. „Kein Problem, Heiko, komm vorbei. Wir gucken mal, was wir finden können.“ Gesagt, getan. Am nächsten Tag stehe ich vor der Hottensteiner Kirche und Renate Kiekuth kommt mir mit Mundschutz entgegen. Wir grüßen uns per Winken und betreten das ehemalige Gemeindebüro im Hottenstein. Im Tresor finden sich die alten Kirchbücher. Nach ein paar Minuten haben wir das Totenbuch, das bis 1921 reicht. Ich schaue mir die alten Einträge an und muss mich erst wieder an die Sütterlinschrift gewöhnen. Ich konzentriere mich auf das Jahr 1918. Die Grippe hatte drei große Wellen, die größte davon war im Oktober und November 1918 zu spüren. Auch in Nächstebreck? Insgesamt starben 1918 in Nächstebreck 66 Menschen, die meisten davon, 35 Personen, im ersten Halbjahr. Dennoch schaue ich mir die restlichen 31 an. Es zeigt sich Erstaunliches: Von diesen Toten starben 12 an Lungenentzündung, fünf an Grippe. Allein im Oktober waren es acht Menschen, die starben, bis auf eine Totgeburt alle an Grippe oder Lungenentzündung. Natürlich ist Vorsicht geboten, nicht jeder Tote ist Opfer der Spanischen Grippe, aber sie zeigt doch eine Tendenz. Die Hälfte der Toten war Opfer dieser schlimmsten Pandemie des 20. Jahrhunderts.

Davon sind wir heute zum Glück weit entfernt. Auch Corona geht vorüber – und danach bleibt alles anders.

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