Auf der Suche nach dem Harmoniumsviertel

Der Vorsitzende des Vereins Wir in Wichlinghausen hatte es sich in den Kopf gesetzt: Leo Schmitz wollte mich (genauer Dr. Collenbusch, als dessen Kopie ich gelegentlich Führungen durch Wichlinghausen und den Barmer Nordosten mache) beim 1. Wichlinghauser Musikfest am 24. September 2022 auf dem Wichlinghauser Markt dabeihaben, um kurz etwas über Wichlinghausen als Harmoniumsviertel zu erzählen. Ein solcher Vortrag, der sogar auf dem Plakat zur Veranstaltung beworben wurde, sollte wohl die musikalische Vergangenheit Wichlinghausens beleuchten.

Es gab nur ein Problem: Abgesehen davon, dass ich den Begriff kannte, wusste ich gar nichts zum Harmoniumsviertel. Anfragen im Stadt- und Kirchenkreisarchiv blieben eher erfolglos. Aber es gab den Hinweis auf einen Bildband zu Wichlinghausen. Also schaute ich in diesen Band und fand das Vorwort des unterhalb des Nordparks aufgewachsenen späteren Bundespräsidenten Johannes Rau. Darin schreibt „Bruder Johannes“, noch in seiner Funktion als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, dass „in vielen Wohnstuben ein Harmonium stand. Dieses Tasteninstrument […] soll neben Bibel und Gesangbuch zur Grundausstattung eines Haushalts gehört haben.“

Der Hinweis auf die Bibel macht deutlich, dass es beim Harmonium weniger um Musik als um den Glauben ging. Passend dazu hörte ich von einem Zeitzeugen die folgende Anekdote. Sein Schwiegervater war im Justizwesen tätig. Irgendwann in den 1950er oder 1960er soll der Präsident des Landgerichts mit Dienstwagen und Fahrer durch Wichlinghausen gefahren sein – einen Ort, den der Präsident bis dahin nicht kannte. So fragte er seinen Fahrer, wo man denn sei. Der Fahrer antwortete, man sei im Harmoniumsviertel, in „Wichelkusen“. Da auch das dem Präsidenten nicht wirklich weiterhalf, präzisierte der Fahrer, dass „die Leute an diesem Ort so fromm wie Postpapier“ seien.

Der Vergleich macht stutzig. Was ist Postpapier und was hat das mit Frömmigkeit zu tun? Bei Postpapier handelt es sich um ein besonderes Papier, dass extra für den Versand mit der Post präpariert worden ist. In früheren Zeiten bezeichnete es sogar noch Pergament, also ein Schreibmaterial aus Tierhäuten. Das Besondere des Papieres ist augenfällig und so besonders fromm war man wohl auch in Wichlinghausen – diese Besonderheit fiel auf.

Diese Frömmigkeit reichte in Wichlinghausen zurück bis in das frühe 18. Jahrhundert. Damals verbreitete sich im „Dorp“ der Pietismus, eine besonders fromme Strömung des Protestantismus, die sich als Antwort auf die als kopflastig empfundenen Lehren von Luther und Calvin verstand und dabei das Herz und die Gefühle mehr in den Vordergrund stellte. Oberstes Ziel war es, als Individuum mit Gott eins zu werden. Dafür konzentrierte man sich auch die Lektüre der Bibel und auf harte Arbeit.

So manch frommer Pietist vergaß aber in der Nachkriegszeit seine Prioritäten klar zu setzen. So erzählte ein anderer Wichlinghauser, dass es bei der Benutzung des Harmoniums durchaus mal handgreiflich werden konnte – nämlich dann, wenn einzelne Sprösslinge den Gesang verweigerten.

Besonders ärgerlich war das, wenn die fromme Familie nicht allein zugegen war, wenn am Sonntag das Harmonium erklang. So ist aus den 1950er Jahren überliefert, dass an jedem zweiten Haus Schilder hingen, die auf Privatgottesdienste in den einzelnen Haushalten hinwiesen. Manchmal zog man dazu auch in die Garagen einzelner Häuser, wie ein Beispiel aus dem angrenzenden Oberbarmen zeigt.

Das Harmoinumsviertel aber lag ganz klar in Wichlinghausen. Wo genau, ist aber umstritten. Einige erzählen, es lag an der Sonnabendstraße, andere verlegen es in die Nähe des Görlitzer Platzes. Sicher ist nur, dass diese kleinen Zusammenkünfte die letzten Überbleibsel des Pietismus waren, der um 1700 als Bewegung einzelner Gläubiger begonnen hatte, die sich in kleinen Gruppen trafen.

Der Wichlinghauser Pfarrer Hans Helmich hielt in seiner Gemeindegeschichte 1994 fest, dass der Pietismus spätestens in den 1970er Jahren aus Wichlinghausen verschwunden sei. Doch hier mag ich widersprechen. Noch heute gibt es solche pietistischen Beispiele in Wichlinghausen, vor allem in den Treffen der kleinen Gemeinschaften mit afrikanischen Wurzeln, die diese Tradition, ohne dass sie es wissen dürften, aufrechterhalten.

Das Harmonium ist dabei längst dem Keyboard gewichen. So mancher Musikliebhaber quittiert die in diesen Gottesdiensten gemachte Musik mit den Worten, sie sei nicht schön, aber dafür laut. Das mag auch vor 70 Jahren manchem Nachbarn so gegangen sein, der das Glück hatte, neben einem Harmonium spielenden Pietisten zu wohnen. So gehört das letzte Wort noch einmal Johannes Rau, der auch schrieb, dass die „orgelartigen Töne des Harmoniums weithin zu vernehmen waren“.

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