Fast vergessen – Goethes Besuch vor 250 Jahren in Elberfeld

Im Sommer 1774 reiste ein noch nicht ganz 25jähriger Autor über den Rhein. Im Jahr zuvor hatte er anonym sein erstes Bühnenstück, den Götz von Berlichingen, veröffentlicht, das im April 1774 uraufgeführt wurde. Kurz vor seiner Reise war sein erster Roman, die Leiden des jungen Werther, fertig geworden, der aber erst im September 1774 veröffentlicht werden sollte. Am 21. und 22. Juli 1774 kam er auch nach Elberfeld.

Das 18. Jahrhundert – das Zeitalter der Aufklärung und der Vernunft! So haben wir es in der Schule gelernt. Wer sich aber genauer mit dem 18. Jahrhundert befasst, der stellt schnell fest: Das ist längst nicht alles. Das Okkulte begann die Massen zu begeistern. Der Pietismus, gerade im Wuppertal, entwickelte sich glatt zu einer Gegenbewegung der Aufklärung und die bloße Vernunft als ausgezeichnetes Merkmal des aufgeklärten Menschen, wie es Immanuel Kant formulierte, als er sein berühmtes Bonmot verfasste, der Mensch solle den Mut haben, sich seines Verstandes zu bedienen, galt vielen jüngeren Intellektuellen nicht als Gradmesser. Sie hielten es mit Alexander Pope, der gemeint hatte, das Thema des Menschen sei der Mensch selbst, mit allem, was dazu gehört.

Jene jungen Intellektuellen spalteten sich in zwei Strömungen. Die einen wild und progressiv: Sturm und Drang werden sie später genannt und der junge Goethe ist einer von ihnen. Die andere Gruppe, eher konservativ und auf die eigene Empfindsamkeit bedacht, fand ein Zentrum in Pempelfort bei Düsseldorf. Hier etablierten die Brüder Jacobi ein Zentrum dieser Bewegung – und wurden von Goethe und den seinigen verlacht. Das Ganze gipfelte in einer bitterbösen Satire Goethes, die er 1772 unter dem Namen Das Unglück der Jacobis verfasste. 1775 vernichtete er das Papier, in dem „die beyden Jacobi wacker gepeitscht“ wurden.

Dennoch: In beiden Zirkeln war man sich der Brillanz der jeweils anderen Seite bewusst und so rühmte Wieland, ein Freund des jüngeren Bruders Friedrich Jacobi, den Götz und Goethes Schwester Cornelia vermittelte ihrem Bruder den Kontakt zu Jacobis Frau Betty, der Goethe viele Briefe schickte. Ein Besuch und die Aussöhnung war irgendwann von Nöten und sollte in jenem Sommer 1774 stattfinden, so fädelten es Cornelia, Betty und ein pietistischer Freund Goethes, der ihn auf der Reise auf dem Rhein begleitete, Johann Lavater, ein. Goethe reiste allerdings nicht allein mit Lavater. Die Rheinfahrt war ein Stelldichein der damaligen Intelligenzija. Neben den beiden genannten waren auch der Philosoph Johann Bernhard Basedow und der Künstler Georg Friedrich Schmoll anwesend. Am 21. Juli landete ihr Schiff in Düsseldorf. Unangemeldet versuchte Goethe Jacobi in dessen Stadthaus zu besuchen, wo er aber vertröstet wurde, denn beide Brüder Jacobi weilten im Wuppertal. Friedrich war als Hofkammerrat im Dienste des Landesherrn an der Vermessung der Bergischen Grenzregion beteiligt und sollte eine Zollreform durchführen. Sein älterer Bruder Johann, ein bekannter Lyriker, weilte derweil im Hause des Weinhändlers Peter vom Heydt, im Volksmund als Wunderbau bekannt, weil die hängenden Gärten an eines der sieben Weltwunder der Antike erinnerten. Dort leerte Johann die Bestände des Hausherrn, während er auf einen Musenkuss wartet.

Kurz entschlossen reiste Goethe auch nach Elberfeld. Allerdings wollte er nun nicht mehr nur Jacobi treffen, sondern auch noch einen weiteren Freund aus Studientagen in Straßburg, der sich in Elberfeld als Arzt niedergelassen hatte und einen guten Ruf als Augenspezialist genoss: Heinrich Jung, später als Jung-Stilling bekannt. Zu Pferde gelangte Goethe am späten Abend nach Elberfeld und nahm sich im Hotel Krone am Turmhof, einem beliebten Aufenthaltsort für Künstler, ein Zimmer. Am frühen Morgen stellte er sich krank und ließ nach einem Arzt rufen. Dieser Arzt, niemand anders als Jung-Stilling, wohnte nur wenige Gehminuten vom Turmhof entfernt in der Eskesgasse 7, heute in der Elberfelder Calvinstraße, und kam sofort ins Hotel, um den vermeidlichen Patienten in dessen Zimmer zu untersuchen:

Altes Foto vom Haus Jung Stillings

„Hier fand er nun den Kranken mit einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tücher verhüllt; der Fremde streckte die Hand aus dem Bette, und sagte mit schwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor! fühlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und schwach; Stilling fühlte und fand den Puls sehr regelmäßig und gesund; er erklärte sich also auch so und erwiderte: ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; so wie er das sagte, hing ihm Goethe am Hals. Stillings Freude war unbeschreiblich.“

Die Suche nach Friedrich Jacobi führte zum Widersehen mit dem Freund aus Straßburg, den Goethe als Student dort gegen Anfeindungen verteidigt hatte. Die beiden verbrachten den Tag miteinander, aßen bei Jung-Stilling, spazierten über die Hardt und erklimmen die Südhöhen Elberfelds, was wohl der Grund ist, dass es dort einen Jung-Stilling-Weg gibt. In ihrer Abwesenheit besuchte Friedrich Jacobi das Haus Jung-Stillings, da er gehört hatte, Goethe solle in Elberfeld sein. Goethe hatte zu diesem Zeitpunkt einen weiteren Dichterkollegen, Wilhelm Heinse, getroffen, der sich ebenfalls in Elberfeld befand und auch nach Düsseldorf zurückwollte. Beide ritten zusammen fort – bis Jung-Stilling sie einholte und zur Umkehr bemühte, da kurz nach ihrer Abreise Jacobi mit Goethes Reisebegleiter Lavater und den anderen Teilnehmern der Reisegesellschaft in Elberfeld zusammengekommen war.

Nun endlich kam es zum längst überfälligen Treffen zwischen Goethe und Friedrich Jacobi. Auf Johann, das eigentliche Ziel von Goethes Spott, wartete Goethe indes vergebens. Dieser kehrte am 23. Juli 1774 nach Pempelfort zurück, wo Goethe auf ihn wartete. Lavater ist es wohl zu verdanken, dass sich Johann dazu durchringen konnte, aus Elberfeld nach Pempelfort aufzubrechen, um Goethe zu treffen, in Elberfeld wollte er dies jedenfalls noch nicht tun.

Die Runde, die sich in Elberfeld traf, war indes zwar schon groß genug, doch weitere Männer kommen hinzu. Der Besuch Goethes hatte sich im Wuppertal herumgesprochen und so kam man im Hause des Elberfelder Kaufmanns Anton Philipp Caspari zusammen. Dessen Haus befand sich bis in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts im Kipdorf. Es handelte sich um ein Eckgebäude, das an der Ecke zur Kielsgasse stand. Diese Gasse wurde im späten 18. Jahrhundert im Volksmund in Casparigasse umbenannt. Anton Philipp Caspari war Ratsherr in Elberfeld und kandidierte als Bürgermeister – ein sicherer Hinweis darauf, dass der Kaufmann seinen Beruf nicht mehr ausüben musste, weil er über genügend Mittel verfügte, um diese ehrenamtliche Position zu bekleiden. Zwar wurde Caspari nicht gewählt, aber seine Stellung und auch sein Ansehen behielt er.

Das war dann wohl auch der Grund, warum sein Haus für Zusammenkünfte genutzt wurde und so zu einem jener privat-öffentlichen Orte der Aufklärung wurde, die sie zu einer Zeit des Strukturwandels der Öffentlichkeit machten. So mag es kaum verwundern, wenn Caspari seine Besucher in einem sehr legeren Outfit empfing, wie Jung-Stilling bezeugt:

„Er hatte eine pechschwarze Perücke mit einem Haarbeutel auf dem Kopfe und einen braunen Schlafrock an, der mit einer grünen seidenen Schärpe umgürtet war“.

Das Haus Caparis im Kipdorf steht nicht mehr.

Die als Elberfelder Zusammenkunft bekannt gewordene Episode im Hause Casparis trug sich am späten Nachmittag des 22. Julis zu. Neben Goethe und Jacobi nahmen Jung-Stilling und Caspari sowie die ganze Gruppe, die zusammen mit Lavater am frühen Nachmittag in Elberfeld angekommen war, an dem Treffen teil. Zusätzlich kamen der Elberfelder Orgelbauer Teschemacher und der pietistische Laientheologe Samuel Collenbusch aus Wichlinghausen hinzu. Die Zusammenkunft dauerte nur eine halbe Stunde, in der Goethe herumlief und Grimassen zog. Inhaltlich ging es um Literatur, dann um Religion, wozu Goethe wenig zu sagen hatte. Er machte sich dann auch auf nach Düsseldorf, begleitet von Jacobi und Heinse, während Lavater, Jung-Stilling und die anderen nach Wichlinghausen gingen, um sich mit dem dortigen Pfarrer Müller, der grauen Eminenz des Bergischen Pietismus, zu treffen.

Dass Goethes Begegnung mit Friedrich Jacobi und Jung-Stilling in Elberfeld für die Literaturgeschichte noch weitere Auswirkungen hatte, sei noch kurz erwähnt, denn aus der Begegnung zwischen Goethe und Fridrich Jacobi entspannte sich eine langjährige Freundschaft, die aber unter keinem guten Stern stand. Goethe selber fasste es wie folgt zusammen:

Jacobis Haus in Düsseldorf-Pempelfort zeigt eine Gedenkplatte.

„Als wir uns wieder fanden, zeigte sich das unbedingte, liebevolle Vertrauen in seiner ganzen Klarheit und Reinheit, belebte den Glauben an vollkommene Teilnahme, sowie durch Gesinnung, als auch durch Denken und Dichten. Allein es erschien bald anders: wir liebten uns, ohne uns zu verstehen.”

Für Jung-Stilling wurde der Besuch Goethes zu seinem literarischen Durchbruch. Diesen erlangte er mit Stillings Jugend, ein Werk, das ohne Jungs Wissen von seinem Studienfreund Goethe 1777 veröffentlicht wurde und sich zur literarischen Sensation des Jahres entwickelte – damals wohnte Jung-Stilling noch in Elberfeld, erst 1778 begann seine Karriere als Professor für Kameralistik in Kaiserslautern.

Und auch für Elberfeld hatte der Besuch weitreichende Folgen. Die fromme, reformierte, als engstirnig und kunstfeindliche bezeichnete Gedankenwelt der Elberfelder soll durch den Besuch Goethes erweitert worden sein. Zumindest Jung-Stilling scheint die halbe Stunde im Hause Casparis, das 1927 abgerissen wurde, sehr beeindruckt zu haben, denn etwa ein halbes Jahr nach der Zusammenkunft bei Caspari, am 5. Januar 1775, kam es zum ersten Treffen der Elberfelder Lesegesellschaft, in der sich zahlreiche Honoratioren Elberfelds trafen. Die Lesegesellschaft traf sich dabei gar nicht zum Lesen, sondern zum Zuhören. Den Eröffnungsvortrag hielt Jung-Stilling, in dem er Sinn und Zweck der Gesellschaft so zusammenfasste, dass sie die „Veredelung des Menschen durch Vermehrung seiner Kenntnisse und Verfeinerung seiner Sitten“ bewirken sollte. Bis 1818 existierte die Gesellschaft, bis sie in der Gesellschaft Museum aufging.

Hier stand das Haus der Lesesgesellschaft.

Anfangs trafen sich die Herren in angemieteten Räumen, doch wuchs das Interesse an der Gesellschaft sehr schnell und so beschlossen die Mitglieder 1780 den Bau eines eigenen Gesellschaftshauses, zu dem im März 1781 der Grundstein gelegt wurde. Als Grundstück wurde ein Garten auf dem Hombüchel erworben, der sich damals bis in das Elberfelder Zentrum erstreckte. Aus dem Gebäude wurde nach dem Ende der Gesellschaft die Heimat der Elberfelder Schule, aus der später das evangelische Gymnasium (heute Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium) an der Grünstraße werden sollte. Als Schulstandort blieb das Gebäude bis 1876 erhalten, seine weitere Geschichte lässt sich nicht rekonstruieren, allerdings muss das Gebäude spätestens 1910 abgerissen worden sein, denn Ludwig Tietz ließ ab dann auf dem Standort sein Warenhaus errichten, in dem sich bis Anfang des Jahres der Kaufhof befand.

Im Goethe-Jahr 2024 in diesem Gebäude Pläne zur Unterbringung der Stadtbibliothek vorzubringen, passt perfekt.

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