I. Ein lutherischer Kirchhof?
Kirchhof, Friedhof, Gottesacker. Alle drei Begriffe bezeichnen einen Begräbnisort. Dabei ist der Begriff des Kirchhofs die älteste Bezeichnung und geht zurück auf den mittelalterlichen Hof vor der Kirche, auf dem die Toten als Teil der Gemeinde weiterhin präsent waren, so dass die lebenden Gemeindeglieder für deren Seelenheil beten konnten.
Gottesacker und Friedhof sind Begriffe des Reformationszeitalters. Sowohl Luther als auch Calvin waren der Meinung, dass die Toten nicht mehr Teil der Gemeinde seien und lehnten auch aus hygienischen Gründen den Kirchhof ab. Sie waren für eine Verlegung des Ortes vor die oder an den Rand der Stadt. Das Wort Friedhof setzte sich bis ins 19. Jahrhundert als genereller Begriff durch und bezeichnete dann auch die ursprünglichen Kirchhöfe.
Zusätzlich zu der zeitlichen Dimension muss auch ein räumlicher Aspekt betrachtet werden. Kirchhöfe in der Stadt unterschieden sich im Mittelalter von denen auf dem Land vor allem in der zusätzlichen Nutzung. Während der städtische Kirchhof ausschließlich für die Bestattung der Toten und damit im Zusammenhang stehenden kirchlichen Ritualen genutzt wurde, war der dörfliche Kirchhof ein Platz für Versammlungen, für Gerichtssitzungen oder auch für Festveranstaltungen. Zusätzlich kam ihm eine Bedeutung als Schutzort zu, so dass er – im Gegensatz zum Kirchhof der Stadt – verstärkte Mauern aufwies.
Die Gemeinde Wichlinghausen ist zwar die älteste lutherische Gemeinde Barmens, hat ihren Ursprung jedoch erst im 18. Jahrhundert und kann sich daher auf diese mittelalterliche Tradition des Kirchhofs berufen. Ebenso wie die Kirche wurde auch die Begräbnisstätte der Gemeinde mit der Gründung 1744 neu angelegt. Statt aber diese der lutherischen Tradition gemäß an den Rand der Gemeinde zu verlegen, wurde der Friedhof in unmittelbarer Nähe der Kirche angelegt. Um diesem Umstand gerecht zu werden, wähle ich im folgenden den Begriff Kirchhof, denn – wie oben gezeigt – sind mit diesem Begriff noch weitere Bedeutungen verbunden, die bei der Beschreibung des Grundstücks eine Rolle spielen.
II: Die Gemeinde
Am 11. Juni 1744 bestätigte der damalige Kurfürst Karl Theodor den Wichlinghauser Lutheranern, eine eigene von Schwelm unabhängige Gemeinde zu werden. Die Gründe für die Trennung sind vielfältig, haben aber mit Sicherheit wenig damit zu tun, dass Schwelm als Gottesdienststätte zu weit weg war – immerhin ging man zum Zeitpunkt der Trennung schon gut 700 Jahre den Weg nach Schwelm.
Wichtig für die Trennung war jedoch vor allem der damalige Kandidat, der in Wichlinghausen die Gläubigen betreute. Mit Johann Peter Wülfing hatten die Wichlinghauser einen Prediger, der gerne am Ort war und daher sogar eine feste Pfarrstelle in Hagen, die ihm 1742 angeboten worden war, auf Drängen der Wichlinghauser ablehnte. Damit blieb er weiterhin als Kandidat mit (wahrscheinlich) geringem Gehalt und lediglich mit der Aussicht darauf, vor Ort Pfarrer zu werden.
Wülfing stellte jedoch eine Bedingung: Die seit den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges als Gotteshaus benutzte Schule sollte schnellstmöglich durch eine echte Kirche ersetzt werden. Da die Wichlinghauser, die zu diesem Zeitpunkt bereits über einen beachtlichen Wohlstand verfügten, schon 1736 Geld für die neue Kirche in Schwelm ausgeben mussten, waren auch bei ihnen die Mittel knapp, so dass Wülfing durch die Lande zog, um Geld für einen Kirchenbau zu sammeln.
In seiner Abwesenheit wurde ihm die Erlaubnis zu predigen entzogen. Die Wichlinghauser bemühten sich, diesen Synodalbeschluss rückgängig zu machen, scheiterten aber sowohl an der Verwaltung in Düsseldorf als auch an der in Mannheim, wo der Kurfürst regierte. Der zurückgekehrte Wülfing indes schrieb nach Kleve, wo man ihn nach Berlin verwies. Dort herrschte Friedrich II. von Preußen als Beschützer der Protestanten im Herzogtum Berg und entsprach der Bitte Wülfings, sich für eine eigene Wichlinghauser Gemeinde einzusetzen. Das Ergebnis dieses Prozesses war die Bestätigung der Unabhängigkeit der Wichlinghauser und damit auch der restlichen Oberbarmer Bezirke.
II. Die alte Kirche
Der Legende nach geht der Wunsch der Wichlinghauser nach einer eigenen Kirche an ihrem Markt auf die schwedische Kavallerie unter General Wolf Heinrich Baudessin zurück, der die schwedischen Lutheraner in der Wichlinghauser Schule während des Dreißigjährigen Krieges einen Gottesdienst hatte abhalten lassen. Mit dem Abzug der Schweden schließlich blieben die Wichlinghauser wohl bei dieser Sitte – mit Billigung der Schwelmer Muttergemeinde. Kirchliche Amtshandlungen jedoch mussten weiterhin in Schwelm vollzogen werden.
Die Unabhängigkeitsbestrebungen in Wichlinghausen waren bereits im frühen 18. Jahrhundert, wohl ausgelöst durch die Gemeindegründung von Gemarke 1702, stark und der Wunsch Wülfings, in einer neuen Kirche zu predigen, war daher nichts Neues für die Wichlinghauser Gemeindeglieder. So hatten sie bereits 1743 begonnen, die neue Kirche zu bauen. Der Geldmangel, der Wülfing dazu brachte, auf Kollektenreise zu gehen, war damals kein Grund, nicht mit dem Bau zu beginnen. Dennoch verzögerte sich die Fertigstellung der Kirche bis zur Einweihung 1745.
Diese Kirche war eine Fachwerkkirche mit eingerücktem Turm in Richtung Osten. Der Eingang in den Kirchraum lag auf der Weststraße und somit an der Südseite des Gebäudes. Neben einer erst im Laufe der 1740er Jahre eingerichteten Bestuhlung im Erdgeschoss verfügte die Kirche über zwei Emporen und bot so Raum für 792 Sitzplätze. Der Standort war bis zum Kauf durch die Gemeinde im Besitz der reformierten Familie Braus gewesen, deren Backhaus dort stand.
III. Der Kirchhof
Mittelalterlicher und damit katholischer Tradition gemäß hätte der Kirchhof der neuen Kirche tatsächlich um die Kirche herum angesiedelt werden müssen. Diese Sitte aber war durch die lutherische Vorstellung eigentlich unmöglich, wenn auch Luther durchaus liberal war, wenn es um Fragen der Bestattung und den mit ihr zusammenhängenden Bräuchen ging. Diese Einstellung der Reformationszeit war aber vor allem den örtlichen Begebenheiten geschuldet. Ein vorhandener, noch nicht voll ausgelasteter Kirchhof sollte natürlich weiterhin genutzt werden. Neu anzulegende Friedhöfe jedoch sollten außerhalb der Gemeinde bzw. an deren Rand angelegt werden.
Selbst wenn die Wichlinghauser einen solchen Kirchhof gewollt hätten, wäre kein Platz für ihn gegeben gewesen. Die Fachwerkkirche lag an der oft genutzten Weststraße, der heutigen Westkotter Straße (vom Markt aus gesehen auf der rechten Seite), einem der wichtigsten Verkehrswege von Elberfeld nach Schwelm. Der Markt aber war bebaut und die Schule stand in unmittelbarer Nähe der Kirche. Gleiches galt für das Pfarrhaus. Bei solchen Platzverhältnissen konnte ein anzulegender Kirchhof gar nicht am Markt errichtet werden.
Der mittelalterliche Dorfkirchhof war oftmals eine höher gelegener Ort, an dessen Spitze die Kirche thronte. Dieses Detail scheint mir bei der Untersuchung des Kirchhofs in Wichlinghausen wichtig zu sein. Die unmittelbare Umgebung des Friedhofs bestätigt nämlich einen solchen höher gelegenen Ort. Schaut man vom Markt aus die Weststraße entlang, geht rechts der sog. Freudenberg, heute Rathenaustraße, ab. Dieser Berg endete in einem kleinen Waldgebiet, dem Sonnabend, etwa dort, wo heute die gleichnamige Straße auf die Nordbahntrasse trifft. Das Gelände zum Wald hinauf war enorm fruchtbar und wurde bis in das 19. Jahrhundert hinein als Wichlinghauser Garten bezeichnet. Die im Jahr 1860 gegründete Apotheke am Wichlinghauser Markt war nicht ohne Grund dort eröffnet worden, ist der Garten, der zum Haus gehört, doch recht groß und war ideal für das Anpflanzen der damals noch üblichen Heilpflanzen. Auch das Anfang des 19. Jahrhunderts erbaute Pfarrhaus mit dem dazugehörigen Garten lag auf diesem fruchtbaren Boden. An diesem Berg, mit dem Eingang gegenüber der Kirche, wurde der Kirchhof der Gemeinde angelegt, wie ein Plan von 1783 zeigt.
Es wäre zu vermuten, dass man den Kirchhof von der Verkehrsstraße abgegrenzt anlegte, also eine Mauer hochzog, einen Eingang errichtete und dann von der ebenen Fläche an die Gräber dem ansteigenden Berg folgend anlegte. Dem ist aber nicht so gewesen. Auf dem Plan von 1783 weist der Eingang bereits Treppen auf. Da der Freudenberg, wie beschrieben, kein Plateau ist, sondern von der Weststraße her ansteigt, muss bei der Anlage des Kirchhofs eine Aufschüttung vorgenommen worden sein. Man baute demnach eine Mauer, um den Friedhof abzugrenzen, und füllte diese Mauer mit Erdreich auf, so dass der Kirchhof gut zwei Meter über der Straße lag. Die Mauer wurde im Jahre 1886 ersetzt. Der Friedhofsplan von 1783 zeigt jedoch eine Mauer, so dass von einer Vorgängermauer gesprochen werden kann. Auch zeigt heute ein Vergleich zwischen der Mauer zur Westkotter Straße und der Mauer neben dem ehemaligen Pfarrhaus an der Ostzufahrt zur Kirche andere Steine und einen klaren Bruch im Mauerbau.
Da er bereits am 5. Juli 1744 eingeweiht wurde, war die Entscheidung, wo und wie ein solcher Kirchhof entstehen sollte, sicher bereits vor der eigentlichen Abtrennung von Schwelm gefallen und es muss die Frage gestellt werden, warum man für den Kirchhof solche Anstrengungen unternommen hat.
Zwei Möglichkeiten kommen in Betracht. Zum einen wäre es möglich, dass man ohne die Aufschüttung nicht weit genug ins Erdreich hätte vordringen können, so dass die Leichen der Verstorben bei starkem Regen oder durch Tiere wieder an die Oberfläche hätten kommen können. Neben dem Grund der Pietät war durch die im 18. Jahrhundert in Deutschland wieder auftretende Pest auch der gesundheitliche Aspekt so wichtig, dass diese Vorstellung für diese Vorgehensweise durchaus eine Rolle spielen könnte. Dennoch bezweifle ich diese Vermutung. Der Freudenberg war und ist fruchtbar, der Boden eignet(e) sich hervorragend für die Bepflanzung von Bäumen und anderen Gewächsen. Der Pfarrgarten war und auch das heutige Gelände ist bis zur Nordbahntrasse hin gesäumt mit starken Kastanien, die sich zwar nicht tief, aber dennoch fest im Boden verwurzeln, so dass davon auszugehen ist, dass der Boden als Begräbnisort ausgereicht hätte.
Die zweite Möglichkeit hat mit der besonderen Religiosität der Wichlinghauser zu tun, die sich im 18. Jahrhundert entwickelte und bis in das 20. Jahrhundert anhielt. Pietistische Einflüsse sind in Wichlinghausen nicht zuletzt durch das Wirken des Laientheologen Samuel Collenbusch stark spürbar, der durch Pfarrer Wülfing geprägt war. Wülfing selbst war neben seinem charismatischen und durchsetzungsstarken Auftreten auch ein erweckter Prediger, der seine Gemeinde zu einer sehr frommen Haltung brachte. Diese pietistischen Einflüsse hatten, so vermute ich, auch Auswirkungen auf das Aussehen des Kirchhofs.
Die pietistischen Gemeinden Württembergs etwa haben besondere Friedhöfe angelegt, die sich von den Friedhöfen lutherischer Tradition unterscheiden. War der Tod für Luther der Abschluss des Lebens für den Verstorbenen und damit sein Ende erreicht, was eben nicht – wie im katholischen Glauben des Mittelalters – bedeutete, dass durch das Beten der Hinterbliebenen noch etwas am Seelenheil geändert werden konnte, so sahen die Pietisten eine Beerdigung durchaus als die Grundlage für etwas Neues, den menschlichen Leichnam wie einen Samen in der Erde, aus dem Neues hervorgehen sollte. Auch der Friedhof der Pietisten in Herrnhut ist als ein Ort angelegt, an dem die Verstorbenen als obere Gemeinde auf die leibliche Auferstehung warten.
In einem solchen Verständnis waren die Verstorbenen ein Symbol der herbeigesehnten Nähe zu Gott und damit hätte ein Kirchhof, der anstieg und dessen unterste Gräber durch die hohe Mauer verdeckt gewesen wären, die Sicht auf eben dieses Symbol verhindert. Durch das Anheben des Grundes waren die Gräber nun für die lebenden Gläubigen zu sehen.
Die Annahme, dass der Kirchhof einer pietistischen Tradition folgt, wird auch dadurch gestützt, dass auf dem Kirchof keine Gräber freigeräumt wurden, sondern die Verstorbenen in ihren Grablegen liegen blieben, so dass der Kirchhof Mitte des 19. Jahrhunderts geschlossen werden musste, war doch seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gemeinde schnell gewachsen. Das hatte auch Auswirkungen auf die Belegung des Kirchhofs, so dass im Jahr 1852 ein neuer Friedhof erbaut wurde. Die durch das preußische Landrecht eingeführten Regeln zum Friedhofsbau führten dazu, dass dieser Friedhof außerhalb des bebauten Raums am Wichlinghauser Markt angelegt werden musste. Der neu gewählte Raum in der heutigen Friedhofstraße ist als Kompromiss anzusehen, denn dieser neue Friedhof befand sich zwar am westlichen Rand des Marktes, aber doch genau zwischen Wichlinghausen und Westkotten und damit für die Kirchengemeinde, die sich westlich bis nach Hatzfeld erstreckte, sogar zentraler als der alte Kirchhof.
Zusätzlich sei in Bezug auf den alten Kirchhof noch erwähnt, dass die bis ins 20. Jahrhundert bekannte dörfliche Struktur Wichlinghausens die Anlage des Kirchhofs begünstigt hatte. Da man sich als eigenständiges Dorf ansah, das sich von der Muttergemeinde Schwelm getrennt hatte, legte man der alten Tradition gemäß den Kirchhof nicht nur dörflich erhöht, sondern im Kern der Gemeinde an – neben Kirche, Markt und Schule.
IV. Die neue Kirche
War der Kirchhof auch zunächst auf ein ewiges Bestehen angelegt, so ging es in erster Linie doch nicht um ihn, sondern vor allem um die dort bestatteten Toten. Diese sollten ihre ewige Ruhe finden. Für die weitere Entwicklung ist diese Tatsache genauso wichtig, wie das in Wichlinghausen herrschende Verständnis der Einheit von Kirche und Kirchhof. Denn die weitere Entwicklung des Kirchhofs könnte auch als Pietätlosigkeit aufgefasst werden, ist aber vor diesem Hintergrund ein durchaus praktischer und vor allem respektvoller Umgang mit den Toten.
Als nämlich die Industrialisierung in Wichlinghausen im 19. Jahrhundert voranschritt, wuchs mit der Produktionsleistung zeitgleich auch die Bevölkerungszahl der Gemeinde und erreichte im Jahre 1844 etwa 3000 Mitglieder. Dieser Umstand alleine hätte wenig Sorgen bereitet, wenn nicht gleichzeitig mit der Industrialisierung das Denken der Menschen beeinflusst worden wäre. Denn mit dem Erstarken der Fabrikarbeit und dem Verschwinden traditioneller Lebensweisen, kurz: Mit dem Vordringen der Moderne begann mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts auch die Bewegung der Romantik.
Während also die Lebenswirklichkeit der Wichlinghauser durch maschinelle Arbeit, Dampfmaschinen und die Lautstärke der Webstühle geprägt wurde, dachten immer mehr Menschen an die Schönheit eines einfachen Lebens zurück, sehnten sich nach dem Wald, der unberührten Natur und den ältesten Zeiten. So verwundert es nicht, dass 1893 der Nordstädter Bürgerverein mit dem Ziel gegründet wurde, auch in Wichlinghausen eine Park- und Waldanlage anzulegen.
In Wichlinghausen war Mitte des 19. Jahrhunderts Pfarrer Friedrich Voswinckel aktiv. Er bediente den Wunsch der Menschen nach der Sehnsucht des einfachen Lebens, indem er sich in seinen Predigten auf die Erzväter konzentrierte, jene biblischen Charaktere, die einzig auf Gott vertrauend, einen ganzen Staat, eine Weltreligion gegründet hatten. In Verbindung mit der ohnehin in Wichlinghausen herrschenden pietistischen Tradition führten diese Predigten dazu, dass so viele Menschen in die alte Kirche kamen, dass nicht alle Gottesdienstbesucher hineinpassen. So heißt es dann auch in einem Antrag der Gemeinde von 1861, dass „die gegenwärtige Kirche nicht den 3. Teil ihrer Glieder in sich aufnehmen” kann, womit die Konfirmanden gemeint waren.
Eine neue Kirche musste her. Keine drei Jahre nach dem Antrag der Gemeinde wurde der Grundstein für die neue Wichlinghauser Kirche gelegt, was mich wieder zurück zum Kirchhof führt. Die neue größere Kirche brauchte Platz. Durch den Zuzug der Arbeiterfamilien im 19. Jahrhundert wurde der Baugrund im Zentrum Wichlinghausens jedoch knapp. Die neue Kirche musste aber, das war klar, im Zentrum der Gemeinde stehen, denn für die Wichlinghauser war der dörfliche Charakter ihres Stadtteils, wenn schon nicht in der Realität, dann doch in der Vorstellung vorhanden. Der zwölf Jahre vorher aufgegebene Friedhof bot den perfekten Baugrund, zumal hinter dem Gelände noch Kapazitäten frei waren, wie der bereits erwähnte Plan von 1783 zeigt.
Das Schicksal des Friedhofs war damit aber nicht besiegelt. Kirche und Kirchhof sollten nun endlich eine tatsächliche Einheit bilden, war doch die bisherige Lösung zwar dem Gedanken nach einheitlich, der Realität der Weststraße aber nicht mehr angemessen. Der Verkehr nahm zu, ein einfaches Passieren der Straße war kaum noch möglich. Um diese Einheit herzustellen, wurde der Kirchhof gärtnerisch umgestaltet (auch hier dem pietistischen Friedhof in Herrnhut nicht unähnlich), war aber als solcher noch immer zu erkennen. Zahlreiche Grabsteine aus der ältesten Zeit des Friedhofs blieben erhalten, Bäume und ein Rundweg ergänzten den Vorhof der neuen Wichlinghauser Kirche zu einer Parkanlage, die erkennbar als romantisierender Kirchhof angelegt war.
Dazu passte die neugotische Kirche, die über dem Friedhof errichtet wurde, und dem Stadtteil so den Anschein einer jahrhunderte alten Gemeinde gab. Durch die Kirche, die klar einem mittelalterlichen Vorbild folgte und damit dem Eisenacher Regulativ entsprachen, setzten die Wichlinghauser die Ideen der Romantik komplett um. Sie hatten jetzt nicht nur eine (neu)gotische Kirche mit Kirchhof, sondern zugleich auch eine Stück Grünfläche im Zentrum ihres Dorfes, an dessen Rändern sich längst Fabriken niedergelassen hatten, die das Leben der Wichlinghauser real prägten.
V. Der Löschteich
Das 20. Jahrhundert und mit ihm die rasante industrielle und wirtschaftliche Entwicklung, der Einbruch der Moderne auch in das Denken der Menschen und nicht zuletzt die politischen Ereignisse seit 1914 machten diesen Vorstellungen Konkurrenz und verdrängten sie nach und nach. Die bedeutendste Veränderung des Kirchhofs war dabei sicherlich der Zweite Weltkrieg. Mit den Bomben auf Barmen und Oberbarmen am 30. Mai 1943 wurde die Gefahr der Brandbomben auch für Wichlinghausen aktuell. Schon im Februar des Jahres hatte das Presbyterium der Gemeinde ein Schreiben erhalten, in dem es gebeten wurde, seine Einwilligung für das Anlegen eines Löschteiches zu geben. Obwohl der Schriftverkehr zum Löschteich im Archiv der Gemeinde gut dokumentiert ist, fehlen Hinweise auf eine konkrete Beratung zu diesem Thema. Vor allem ältere Gemeindeglieder vermuten, dass die Gemeinde offiziell zwar gebeten wurde, tatsächlich aber keine Wahl hatte.
Wie dem auch sei: Der Löschteich wurde Realität. Auf die Besonderheit des Ortes wurde dabei nur bedingt Rücksicht genommen, so wurden etwa die Grabsteine des Kirchhofes entfernt und der Gemeinde zur Verwahrung gegeben – ein Hinweis darauf, dass man beabsichtigte, den Teich wieder zu entfernen. Der Teich wurde in rechteckiger Form angelegt und lag etwa fünf Meter von der Mauer zur Weststraße entfernt. Nach einem Augenzeugenbericht betrugen seine Maße etwa zehn mal zwanzig Meter.
Andere Löschteiche in Wichlinghausen hatten nach Bildern und Augenzeugenberichten ähnliche Ausmaße. Ein Augenzeuge berichtet, dass er in dem Löschteich am Görlitzer Platz geschwommen sei und dieser eine Tiefe von etwa 1,35 bis 1,50 m gehabt habe. Eine solche Tiefe kann daher auch für den Teich an der Wichlinghauser Kirche angenommen werden.
Zur Anlage des Teiches rückten Bagger an, die eine Grube aushoben, von der angenommen werden darf, dass sie tiefer war, als der eigentliche Teich, der ja dauerhaft angelegt war und daher ein festen Fundament benötigte, der noch einmal einen guten halben Meter tiefer angelegt werden musste. Die Bagger schaufelten daher auf dem alten Kirchhof eine Grube von 200 qm und einer Tiefe von zwei Meter. Das Ergebnis dieser Arbeiten war ein Erdhügel auf einer der beiden Zufahrtsstraßen zur Kirche. Ein Augenzeuge, der damals zum Kindergottesdienst ging, berichtet vom Anblick:
„Natürlich wurden viele Skelettreste mit ausgegraben. Gegenüber dem östlichen Treppenaufgang zur Kirche wurde an der Mauer ein großer Erdhaufen gelagert. Er enthielt viele Knochen, auch Schädel lagen herum.
Die 60 – 80 Kinder des Kindergottesdienstes trafen sich zunächst auf dem Podest vor der Kirche. Schon begannen einige Jungen mit einem Schädel Fußball zu spielen. Dies wurde allerdings von den Kindergottesdiensthelfern schnell unterbunden“.
Ein anderer Augenzeuge erweitert die Geschichte. Die Schädel wurden nicht nur als Fußbälle missbraucht, sie wurden auch auf der Mauer des Kirchhofs zur Schau gestellt und begrüßten so die sonntäglichen Kirchgänger.
Die sterblichen Überreste wurden im Nachhinein auf dem Friedhof in der Friedhofstraße bestattet, wo sie jedoch nun unter das Friedhofsgesetz fielen, so das ihre Gräber nach 25 Jahren neu vergeben wurden. Da durch das Vorgehen der Teichbauer und die Gestaltung des Parkes vor der Kirche eine genaue Zuordnung der Knochen zu konkreten Verstorben nicht mehr möglich war, wurden auch die alten Grabsteine nicht in den neuen Friedhof integriert.
Da Wichlinghausen von den Bomben des Zweiten Weltkriegs relativ verschont blieb, wurde der Löschteich niemals für seiner ursprünglichen Bestimmung benötigt und blieb über das Jahr 1945 erhalten. Die Tatsache, dass im Zentrum von Wichlinghausen ein solcher Teich lag, führte dazu, dass er anderweitig genutzt wurde. In einer Bitte des Presbyteriums an die Stadt Wuppertal vom Januar 1947, den Teich abzubauen, heißt es dazu: „Trotz verschlossener Tore gelingt es immer wieder der Jugend, über die Tore hinweg an den Teich zu kommen, und den zugefrorenen Teich als Eisbahn zu benutzen, was bei Tauwetter besonders grosse [sic] Gefahr bedeutet“.
Keine drei Tage nach Abschicken des Schreibens wurde der Teich am 24. Januar 1947 durch die städtische Feuerwehr leergepumpt, da der Teich „für Feuerlöschzwecke nicht mehr benötigt“ wird. Auch ein Zuschütten des Teiches war beabsichtigt, konnte aufgrund der Jahreszeit aber wohl erst im März angesetzt werden, so dass sich erneut Wasser im Teich sammelte. Beim abermaligen Abpumpen unterlief dem Löschwagenfahrer Westemeier jedoch ein Missgeschick, beschädigte er doch das Tor zum Kirchhof, dass westlich der Kirche liegt. Einen Tag später, am 21. März 1947, fuhr die Feuerwehr durch das Osttor, wobei der schwere Löschwagen auf dem Pflaster der Zufahrt einsackte. Die von der Gemeinde geforderte Reparatur in Höhe von 152,50 RM wurde von der Feuerwehr abgelehnt und nicht bezahlt.
Die dadurch entstandene Uneinigkeit sorgte für eine weitere Verzögerung. Zwar war der Löschteich nun leergepumpt, aber noch nicht zugeschüttet. Im Oktober 1948 richtete das Presbyterium erneut eine Bitte an die Stadt, dass dies nun endlich geschehe. In der vergangenen Zeit hatte sich erneut Wasser im Teich gesammelt, das nun dadurch abfließen sollte, dass man den Boden „durch Sprengung oder Bohrung durchlöchert“. Das Presbyterium befürchtete eine Versauerung des Bodens.
Das Anführen dieses Grundes hatte nur einen Sinn: Das Presbyterium wollte den Park wieder herstellen, der bis 1943 bestanden hatte. Der Bitte muss noch im Herbst 1948 entsprochen worden sein, auch wenn ich keine Belege dafür gefunden habe. Im Mai 1949 jedoch scheint der Teich verschwunden, denn die Gemeinde Wichlinghausen richtet erneut ein Schreiben an die Stadt Wuppertal, diesmal an das Garten- und Forstamt. Der Wunsch, die Parkanlage wieder zu errichten, war groß, eine Finanzierung aus den Gemeindemitteln aber nicht möglich. Daher entwickelte man im Presbyterium einen Plan: Da der Löschteich durch die öffentliche Hand angelegt und bezahlt worden war, wollte man probieren, diese auch zur Kostenübernahme der Wiederherstellung des Parks zu bewegen. Diese Überlegung wurden durch eine kongeniale Begründung von Seiten der Stadt abgewiesen:
„Der Luftschutz war gemäß § 1 des Luftschutzgesetzes vom 26. 6. 1935Aufgabe des Reichs und oblag dem ehemaligen Reichsminister der Luftfahrt. Das gleich gilt für die Sicherstellung der Feuerlöschwasserversorgung für den Luftschutz. Das Reich war zur Tragung der Kosten für die Luftschutzlöschwassereinrichtungen, soweit diese Einrichtungen nicht auch zur ordnungsmässigen Lösch- und Trinkwasserversorgung im Frieden notwendig waren, verpflichtet. […] Die Stadtverwaltung ist für die Beseitigung ehemaligen Luftschutzeinrichtungen nicht verantwortlich, da es Aufgabe des Reiches war, derartige Einrichtungen zu schaffen und demzufolge auch das Reich für die Beseitigung aufzukommen hätte. Auch ist die Gemeinde nicht Rechtsnachfolgerin des Reiches geworden“.
Daraus ergab sich für die Stadt Wuppertal keine Verpflichtung zur Sanierung der ehemaligen Kirchhofanlage. Damit hört die Korrespondenz zwischen Kirchengemeinde und Stadtverwaltung bezüglich des Kirchhofes auf. Die Gemeinde hatte kein Geld, um den Park wieder herzurichten, besaß aber noch immer die Grabsteine. Diese verfielen mit der Zeit. Im Jahr 1990 wollte man handeln und die Grabsteine retten, indem man sie an der Mauer hinter der Kirche anbrachte. Der Architekt Günter Wessel hatte dazu einen Vorschlag unterbreitet. Auf der Sitzung des Presbyteriums wurde jedoch beschlossen, dass für eine Sanierung der Grabsteine aus dem 18. und 19. Jahrhundert keine Mittel zur Verfügung stünden, so dass sie in Absprache mit der Denkmalbehörde entsorgt wurden.
VI. Die Wiese
Der ehemalige Kirchhof in Wichlinghausen war mit der fehlenden Finanzierung der Parkanlage verschwunden. Falls es einzelne Vorstöße zur Wiedererrichtung gegeben hat, sind diese nicht verzeichnet. Statt einer Parkanlage wurden eine gepflegte Wiese und eine Reihe von Bäumen vor der Kirche errichtet. Letztere wurden jedoch zu hoch und versperrten mit der Zeit die Sicht auf die Kirche, so dass sie gefällt wurden. Auch die Bäume, die der Löschteich noch übrig gelassen hatte, verschwanden schließlich. Stattdessen entstand vor der Wichlinghauser Kirche eine Wiese, die während der Gemeindefeste regelmäßig für unterschiedliche Aktivitäten genutzt wurde.
Darüber hinaus spielte die Wiese aber noch in einem weiterem Planspiel eine Rolle. Als man im Jahre 1970 innerhalb der Gemeinde darüber nachdachte, die Wichlinghauser Kirche abzureißen, da sie enorme Kosten verursachte und an ihrer Stelle ein neues Gebäude zu errichten, das Gemeindearbeit und Gottesdienst miteinander verband, legte Günter Wessel eine Lösung vor, in die er den alten Bau mit einbezog.
Er stellte sich einen Glasbau vor, den er in die Wiese einlassen wollte. Die Kirche wäre so ohne einen der beiden Wege zu benutzten direkt von der Westkotter Straße aus erreichbar gewesen, denn dort wäre ein Eingang erbaut worden, der durch den ehemaligen Kirchhof geführt hätte. Die Wiese selber wäre verschwunden und an ihrer Stelle hätte der Glasbau gestanden. Wessels Konzept setzte sich genauso wenig durch wie die Pläne zum Verkauf der Kirche.
Diese wurden in jüngster Vergangenheit wieder aktuell, wurden jedoch erneut verworfen. Stattdessen wurden das Kirchgebäude und auch der alte Kirchhof verpachtet. Entstehen soll ein Begegnungszentrum für Wichlinghausen, in dem soziale Arbeit geleistet wird. Auch der alte Kirchhof bzw. die aus ihm entstandene Wiese wird in diese Arbeit wohl einbezogen werden. Ein Ende seiner Geschichte ist somit noch nicht in Sicht.
VII. Zusammenfassung
Mit der Gründung der lutherischen Gemeinde Wichlinghausen durch die Loslösung von der Muttergemeinde Schwelm war es nötig geworden, eine eigene Grabstätte zu besitzen. Aussehen und Zweck dieser Grabstätte waren, geprägt durch pietistische Vorstellungen, an eine mittelalterliche Dorfkirche und deren Kirchhof angelehnt. Die Voraussetzungen dafür waren jedoch aus Platzmangel am Markt nicht gegeben, so dass dieser Kirchhof letztlich in mittelbarer Nähe, durch die Weststraße getrennt von der Kirche angelegt wurde. Dem pietistischen Geist entsprechend war der Kirchhof als eine Art ewiger Friedhof angelegt, der auch, nachdem er komplett belegt war, Bestand haben sollte.
Durch das Wachsen der Gemeinde musste eine neue Kirche gebaut werden. Geprägt durch romantische und historisierende Vorstellungen wurde so nicht nur die Kirche der mittelalterlichen Gotik angepasst, in dem man eine neogotische Kirche plante und baute, sondern auch der ursprüngliche Wunsch nach einem Kirchhof nach mittelalterlichem Vorbild umgesetzt, so dass der Wichlinghauser Markt und somit das Dorf Wichlichlinghausen seiner eigenen Vorstellung gemäß aussah: Ein Dorf mit klassischem Stadtkern. Dafür wurde der Kirchhof zu einer Parkanlage verändert, die durch ausgewählte repräsentative Grabsteine dem Bild des ewigen Friedhofs entsprach.
Diese Vorstellung wurde erst durch den Zweiten Weltkrieg 1943 verändert und durch fehlende Finanzierung im Laufe des 20. Jahrhunderts komplett aufgegeben, so dass in den 1970er Jahren sogar die Überlegung bestand, die nur noch erhaltene Wiese vor der Kirche durch einen Anbau zu ersetzen. Durch die Verpachtung der Wichlinghauser Kirche und des angrenzenden Kirchhofs an die Diakonie Wuppertal soll die Wiese weiterhin in dem Sinne genutzt werden, den sie in den letzten Jahrzehnten besaß: Für Fest und Aktivität.
Literatur:
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Hans-Dieter Frauer: Das schwäbische Paradies. Geschichten zur Geschichte – Pietismus in Württemberg, Marburg an der Lahn ²2011.
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Paul Kaiser: Das sogenannte Eisenacher Regulativ von 1861. Ein kirchenrechtliches Phantom. In: Klaus Raschzok, Reiner Sörries (Hg.): Geschichte des protestantischen Kirchenbaues. Festschrift für Peter Poscharsky zum 60. Geburtstag, Erlangen 1994, S. 115–118.
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Gerd Teckenberg: Vom Friedhof zum Löschteich, in: Ev. Kirchengemeinde Wichlinghausen -Nächstebreck (Hg.): Die Wichlinghauser Kirche in Bildern und Geschichten, Wuppertal 2014, 8-9.