Carl Emil Lischke – Naturforscher, Reisender und Profiteur kolonialer Strukturen

Als der ehemalige Oberbürgermeister Elberfelds, Carl Emil Lischke, 1886 seine Reise nach Ostindien antrat, war er nicht nur ein neugieriger Naturforscher, sondern auch ein Mann, der tief in die kolonialen Strukturen des 19. Jahrhunderts eingebettet war. Seine Karriere als Jurist, Diplomat und Oberbürgermeister von Elberfeld hatte ihn mit den administrativen Mechanismen des preußischen Staates vertraut gemacht, während seine wissenschaftliche Arbeit über Muscheln und Schnecken ihn in die maritime Welt des globalen Handels führte. In seinen Reiseaufzeichnungen beschreibt er mit Faszination die tropische Natur, das geschäftige Treiben der Hafenstädte und die Begegnungen mit den Einheimischen – stets mit dem selbstverständlichen Blick eines Europäers, der sich als Vertreter einer überlegenen Zivilisation sieht.

Die Reise als Erkundung eines „erschließbaren“ Raumes

Die ersten Eindrücke, die Lischke nach seiner Ankunft in Ostindien festhielt, waren von den intensiven Sinneseindrücken der neuen Umgebung geprägt. Die „schwere Luft, getränkt von fremden Düften, einem Gemisch aus Gewürzen, frischer Erde und dem salzigen Atem des Meeres“ bildete für ihn die exotische Kulisse eines Landes, das er als Forscher und Sammler erkundete. Doch so lebendig seine Schilderungen auch sind, sie offenbaren zugleich eine deutliche Distanz zur lokalen Bevölkerung.

Während er über den Marktplätzen spaziert, beobachtet er „Händler, die ihre Waren ausriefen, während Frauen in bunten Gewändern an den Ständen feilschten“. Die Menschen erscheinen ihm dabei wie Figuren eines Schauspiels, das er aus sicherer Entfernung betrachtet. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Kulturen, mit denen er in Berührung kommt, bleibt aus. Stattdessen hält er seine Perspektive als externer Beobachter aufrecht, der sich als Vertreter der europäisch geordneten Welt empfindet.

Diese Sichtweise wird noch deutlicher, als er sich auf eine Erkundungstour ins Landesinnere begibt. In seinen Notizen beschreibt er, wie er durch „dichte Bambuswälder ritt, das Summen von Insekten und das Rufen ferner Vögel begleitete uns, bis sich plötzlich der Wald öffnete und ein prächtiger Tempel aus rotem Sandstein vor uns lag“. Doch während er sich von der Schönheit der Landschaft begeistern lässt, bleibt sein Blick auf die fremde Kultur distanziert. Der Tempel ist für ihn ein Relikt einer vergangenen Zeit – nicht etwa ein lebendiges Zentrum einer eigenständigen Zivilisation.

Handel und koloniale Wirtschaftsstrukturen als Normalität

Ein besonderes Augenmerk legt Lischke auf den Handel, den er mit akribischer Präzision dokumentiert. Er beschreibt, wie „die Kähne beladen waren mit Säcken von Pfeffer und Zimt, während auf der anderen Seite des Kais große Ballen Baumwolle gestapelt wurden. Europäische Händler und indische Kaufleute verhandelten mit ernsten Mienen.“ Was in seinen Aufzeichnungen wie eine nüchterne Beschreibung wirkt, offenbart eine tiefere Dimension: Die koloniale Handelsordnung, die sich in diesen Märkten manifestierte, wird von ihm als gegebene Realität betrachtet, die keiner Hinterfragung bedarf.

Dabei war die europäische Dominanz in diesen Handelszentren keineswegs ein natürlicher Zustand, sondern das Resultat einer jahrhundertelangen wirtschaftlichen Ausbeutung, politischer Einflussnahme und militärischer Intervention. Dass die lokalen Händler hier nur noch eine untergeordnete Rolle spielten, war das direkte Ergebnis kolonialer Machtstrukturen. Doch für Lischke erscheint dies nicht als Problem – vielmehr sieht er in der Ordnung, die durch europäische Händler geschaffen wurde, eine natürliche Weiterentwicklung des Handels.

Naturwissenschaft als koloniale Aneignung von Wissen

Lischkes eigentliche wissenschaftliche Passion, die Malakologie, führte ihn dazu, an den Stränden und Küsten Ostindiens ausgedehnte Sammelarbeiten durchzuführen. Mit Begeisterung notiert er, dass er „eine ungeahnte Fülle an Muscheln und Schnecken fand, viele von Formen und Farben, die in keinem europäischen Museum zu sehen waren“. Diese Aussage verdeutlicht nicht nur seinen Sammlertrieb, sondern auch die koloniale Aneignung von Natur und Wissen.

Wie viele Naturforscher seiner Zeit betrachtet Lischke die Entdeckung und Katalogisierung dieser Spezies als seine eigene Leistung. Das Wissen der lokalen Bevölkerung über diese Arten spielt in seinen Schriften keine Rolle – ebenso wenig die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, diese natürlichen Ressourcen für europäische Museen und Sammlungen zu entnehmen. Wissenschaft, so wie er sie versteht, ist eine europäische Disziplin, die sich das „unentdeckte“ Wissen der Welt aneignet.

Diese Haltung war keineswegs ungewöhnlich. Im gesamten 19. Jahrhundert waren Naturforscher eng mit den kolonialen Strukturen verwoben, die ihnen Zugang zu fremden Ländern ermöglichten. Die europäischen Wissenschaftler sahen sich nicht als Gäste, sondern als diejenigen, die den wahren Wert einer Region erfassten – sei es durch wirtschaftliche Nutzung oder durch wissenschaftliche Erschließung.

Reflexion und das Bekenntnis zur kolonialen Ordnung

Am Ende seiner Reise zieht Lischke ein Fazit, das seine Perspektive nochmals verdeutlicht. „Die Reise war eine Offenbarung“, schreibt er, „doch nichts kann die geordnete Schönheit und Klarheit der Heimat ersetzen. Hier wie dort hat die Natur ihre Wunder, doch der Mensch gestaltet sie nach seinem Willen.“

Seine Bewunderung für die tropische Natur weicht letztlich einem eindeutigen Bekenntnis zur europäischen Ordnung. Für ihn ist es der europäische Mensch, der die Natur „gestaltet“ – eine Formulierung, die offenbart, wie selbstverständlich er es ansieht, dass die koloniale Welt nach europäischen Vorstellungen geformt werden sollte.

Lischkes Vermächtnis – Wissenschaft als koloniale Praxis

Carl Emil Lischke mag in erster Linie ein Naturforscher gewesen sein, doch sein Reisebericht zeigt, wie tief seine wissenschaftliche Arbeit in den kolonialen Strukturen seiner Zeit verwurzelt war. Seine Forschung wurde durch den Kolonialismus ermöglicht, seine Perspektive wurde durch ihn geprägt, und seine Erkenntnisse wurden innerhalb eines Systems gewonnen, das die Einheimischen nicht als gleichberechtigte Partner, sondern als Teil eines zu erforschenden und zu ordnenden Terrains betrachtete.

Sein Lebenswerk steht damit exemplarisch für eine Wissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert nicht nur als neutral verstand, sondern aktiv an der Legitimation kolonialer Machtstrukturen beteiligt war. Indem er unkritisch von Handelsstrukturen profitierte, sich Wissen und Naturproben aneignete und die koloniale Weltordnung als selbstverständlich hinnahm, war er nicht nur ein Zeuge dieser Epoche – er war einer ihrer Nutznießer.

Heute sind seine Schriften nicht nur historische Dokumente der Naturwissenschaft, sondern auch Zeugnisse einer Zeit, in der Wissenschaft, Wirtschaft und Politik eng miteinander verflochten waren. Sie erinnern uns daran, dass Forschung niemals im luftleeren Raum geschieht – und dass wir auch heute kritisch hinterfragen müssen, welche Machtstrukturen das wissenschaftliche Wissen prägen, das wir als selbstverständlich betrachten.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert