Spaziergang durch die Gesellschaft – Eine kleine Führung durch das bürgerliche Elberfeld

„Die Störung ist behoben.“
Diese Durchsage hallte unermüdlich vom ehemaligen Kaufhofgebäude an der Grünstraße – schon seit dem Vormittag, wie eine Teilnehmerin zu berichten wusste. Als wir uns gegen 15:00 Uhr dort zum Auftakt unserer Führung versammelten, hatte die automatische Stimme längst ihren Platz im Stadtklang gefunden – wie ein technisches Mantra, das unbeirrt wiederholte, was längst niemand mehr glaubte. Es war ein absurder, fast poetischer Einstieg in unseren Spaziergang durch das 19. Jahrhundert – durch eine Zeit, in der ebenfalls vieles in Bewegung, einiges gestört und manches auf bemerkenswerte Weise „behoben“ war.

Wir waren acht Personen – eine kleine, interessierte Gruppe, die sich gemeinsam auf die Spur der bürgerlichen Gesellschaft Elberfelds machte. Im Gepäck: historische Fotografien und Grafiken zur Anzahl und Themenausrichtung der Elberfelder Vereine zwischen 1800 und 1850. Unser Ziel war nicht nur die große Geschichte, sondern auch die kleinen, oft übersehenen Details – wie etwa ein Straßenname oder ein Fenster in einer Fassade, das mehr erzählt, als es den Anschein hat.

I. Die Lesegesellschaft – Von der Aufklärung zur Elite

Der erste Schritt unserer Führung führte nicht nur durch die Elberfelder Innenstadt, sondern auch tief hinein in die Frühgeschichte bürgerlicher Vergesellschaftung. 1775 – also noch vor der Französischen Revolution – wurde in Elberfeld die Lesegesellschaft gegründet. Der Legende nach war es ein Besuch Goethes im Juli 1774, der den Impuls zur Gründung gab. Tatsächlich war es Heinrich Jung-Stilling, Arzt, Pietist, Aufklärer und enger Vertrauter Goethes, der als ideeller Initiator eine tragende Rolle spielte.

Die Gesellschaft ruhte auf zwei Säulen: Zum einen stellte sie ihren Mitgliedern Bücher zur Verfügung – eine wichtige Funktion in einer Zeit, in der Bücher teuer und private Bibliotheken die Ausnahme waren. Zum anderen organisierte sie mittwochs Vortragsabende zu Literatur und Wissenschaft, bei denen gelesen, zugehört und diskutiert wurde. Die Räume waren eng, die Mitgliederzahl begrenzt, der Ton sachlich und auf Bildung ausgerichtet. Elberfelds Lesegesellschaft war damit eine der frühesten Einrichtungen bürgerlicher Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum.

Doch mit dem Wachstum der Stadt wuchs auch die Gesellschaft – und veränderte sich. Die Zahl der Mitglieder stieg, das Leseinteresse nahm ab, die gesellige Komponente gewann an Gewicht. Zigarren ersetzten Bücher, Billiardtische die Vortragenden. Der ursprünglich aufklärerische Charakter der Vereinigung verlor sich zunehmend in einer Art geselligem Elitenclub.

Das ehemalige Haus der Elberfelder Lesegesellschaft. Es stand an der heutigen Grünstraße, wo später das Warenhaus Tietz errichtet wurde.

1818, nach über vier Jahrzehnten Bestehen, ging der Lesegesellschaft die Luft aus – oder genauer: die Mitglieder. Trotz einer Reduktion des Jahresbeitrags von 100 auf 30 Taler konnte der Schwund nicht aufgehalten werden.

II. Verantwortung im Schatten – Der Frauenverein von 1814

Unsere zweite Station führte uns zum St.-Josef-Krankenhaus. Nicht, weil der Elberfelder Frauenverein von 1814 dort gegründet wurde – das war er nicht –, sondern weil der Ort heute wie damals sinnbildlich für Fürsorge, Pflege und soziale Verantwortung steht. Diese Werte verkörperte auch jener erste dokumentierte Frauenverein im bergischen Raum, der im Oktober 1814 in Elberfeld ins Leben gerufen wurde.

Die Initiative ging nicht von den Frauen selbst aus, sondern war – was oft übersehen wird – eine staatlich gelenkte Maßnahme: Kreisdirektor Graf Seyssel hatte die Bürgermeister zur Unterstützung solcher Gründungen aufgerufen. Eine Woche nach der offiziellen Gründung rief der Elberfelder Oberbürgermeister zur Spendenbereitschaft auf – Verbandmaterial, Kleidung, Geld. An der Spitze des neuen Vereins stand Cornelia von Carnap, Ehefrau eines preußischen Beamten. Unterstützt wurde sie von einem kleinen Kreis bürgerlicher Frauen – 22 an der Zahl –, die sich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit organisierten.

Ihr Auftrag war klar: Versorgung der Verwundeten aus den Befreiungskriegen, Hilfe für Kriegsopfer, praktische Unterstützung in einer krisengeschüttelten Zeit. Und sie handelten schnell. Bereits 1815 hatte der Verein über 6.428 Bergische Taler gesammelt – eine enorme Summe, die nicht nur für lokale Zwecke verwendet wurde. Vertreterinnen des Vereins reisten sogar persönlich nach Frankreich, zu den Schlachtfeldern, um Hilfsgüter zu überbringen. Es war eine frühe Form humanitärer Hilfe – organisiert von Frauen, getragen von Pflichtgefühl, Mut und Pragmatismus.

Nach dem Krieg wandelte sich der Verein. Aus der Notfallhilfe wurde strukturierte Sozialarbeit. Es entstand eine Nähschule, die Mädchen und jungen Frauen eine Ausbildung ermöglichte. Später beteiligte sich der Verein an der Finanzierung einer Veteranenstiftung. Und in den 1890er Jahren wurde in Barmen ein Vermittlungsbüro für weibliche Arbeitskräfte gegründet – ein Ausdruck dessen, dass Frauen längst Teil der Erwerbswelt waren. Während Männer in ihren Vereinslokalen debattierten, rauchten, turnten oder musizierten, arbeiteten Frauen – sie nähten, pflegten, organisierten, vermittelten.

Gerade für unverheiratete Frauen war der Verein ein Fenster zur Welt: Wer keine Familie zu führen hatte, konnte hier Wirksamkeit erfahren, Kontakte knüpfen, Verantwortung übernehmen. Vereinsarbeit war eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Rollen jenseits von Ehe und Haushalt – und wurde von den Frauen mit großer Selbstverständlichkeit ausgefüllt.

Die Frauenvereine dieser Zeit waren also keine politischen Organisationen, aber sie waren auch weit mehr als nur karitativ. Sie waren – wie Illner schreibt – „nachhaltige soziale Einrichtungen“, eingebunden in ein überregionales Netzwerk, gut organisiert, behördlich legitimiert und weiblich getragen. Ihre Geschichte ist nicht nur eine Fußnote zur großen Bürgergeschichte – sie ist deren notwendiger Kontrapunkt.

Während sich die frühen Frauenvereine noch vor allem der akuten Not widmeten – Verwundetenpflege, Armenspeisung, Kinderfürsorge –, wandelten sich ihre Aufgaben gegen Ende des Jahrhunderts. Aus karitativen Zusammenschlüssen wurden zunehmend sozialorganisatorische Einrichtungen, die auf neue gesellschaftliche Realitäten reagierten: steigende Armut, Urbanisierung, weibliche Erwerbstätigkeit. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür war das Vermittlungsbüro für weibliche Arbeitskräfte, das 1894 in Barmen gegründet wurde.

Dieses Büro tat nichts weniger als das, was heute Arbeitsagenturen tun: Es beriet Frauen, vermittelte Stellen, unterstützte berufliche Qualifizierung. Damit trat es in einen Raum, der bis dahin kaum weiblich besetzt war – die geregelte Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses. Die Organisation wurde von Frauen getragen, für Frauen – ein Netzwerk, das praktische Hilfe bot, ohne Bevormundung, und damit eine frühe Form weiblicher Selbstermächtigung darstellte.

Besonders interessant ist der gesellschaftliche Kontrast, der sich hier auftat: Während die Männerwelt sich weiterhin in Lesegesellschaften, Kasinos und Schützenvereinen versammelte, um sich zu unterhalten, zu trinken, zu diskutieren oder zu spielen, organisierten Frauen Arbeit, Einkommen und soziale Absicherung. Und sie taten es meist ohne Bühnenlicht, ohne große Namen, aber mit Struktur, Ausdauer und Erfolg.

Wie Lekebusch betont, blieb das Verhältnis zu Frauen aus der Arbeiterschicht dabei ambivalent. Viele bürgerliche Frauen betrachteten sie weiterhin als Fürsorgeobjekte – eine echte soziale Durchmischung fand selten statt. Und doch war das Vermittlungsbüro ein klarer Schritt in Richtung Selbsthilfe statt Mildtätigkeit, in Richtung Beruf statt Almosen.

Für uns war dieser Ort – wenn auch nicht in Elberfeld gelegen – ein wichtiger Baustein, um die weibliche Vereinsarbeit im Bergischen Land in ihrer ganzen Spannweite zu erfassen: vom patriotischen Hilfsverein bis zur sozialen Infrastruktur für Frauen im Berufsleben.

III. Vom Musentempel zum Herrenklub – Die Gesellschaft Museum und das Kasino

Wo sich heute das Finanzamt Elberfeld befindet, stand einst das repräsentative Gesellschaftshaus der Gesellschaft Museum – ein Ort, der wie kein zweiter für den Wandel bürgerlicher Ideale im 19. Jahrhundert steht. Noch heute erinnert die Kasinostraße an diesen früheren Mittelpunkt Elberfelder Vereinslebens.

Wenig bekannt ist, dass die Gesellschaft Museum selbst aus freimaurerischen Kreisen hervorging. Bereits 1812 hatten sich in Elberfeld 23 Freimaurer zu einem öffentlichen Lesezirkel zusammengeschlossen – gewissermaßen als Tarnorganisation, um staatlicher Überwachung zu entgehen. Aus diesem Kreis entstand 1815 die Loge „Hermann zum Lande der Berge“, die bis heute besteht. Die personellen Überschneidungen zwischen Loge und Museum waren zahlreich; man kann sagen, dass das Bildungsideal der Aufklärung, das im Musentempel beschworen wurde, hier seine geistige Heimat hatte – jedenfalls zu Beginn. Als das ursprüngliche Gesellschaftshaus nach einem Brand 1858 neu errichtet werden musste, baute die Loge gleich mit: Das Logenhaus entstand auf demselben Gelände und wurde 1861 bezogen. Heute residiert die Loge im Stadtteil Barmen, doch ihre Wurzeln liegen – diskret und wirkungsmächtig – mitten im bürgerlichen Elberfeld.

Die Gesellschaft Museum wurde 1816 gegründet, aber ihre Wurzeln reichen tiefer. Sie ging hervor aus einer Fusion mit der Ersten Lesegesellschaft Elberfelds, die seit 1775 existierte und 1818, nach stetig sinkender Mitgliederzahl, in der neuen Gesellschaft aufging. Mit dem Verkauf ihres alten Gebäudes an der Grünstraße – wo heute der ehemalige Kaufhof steht – leistete sie einen entscheidenden Beitrag zur Finanzierung des neuen Gesellschaftshauses an der heutigen Kasinostraße, das 1820 errichtet wurde.

Zwei Bilder aus der Führung veranschaulichen diesen Wandel eindrucksvoll: das Altgebäude an der Grünstraße, eher schlicht und bürgerlich-zurückhaltend, und der repräsentative Neubau an der Kasinostraße, der mit seiner Größe und Ausgestaltung den veränderten Anspruch der Gesellschaft deutlich machte.

Der erste Bau der Gesellschaft Museum von 1820.

Der Name „Museum“ hatte damals noch nichts mit Kunstsammlungen zu tun, sondern leitete sich vom Musentempel her – einem Ort der Künste, der Bildung und der gepflegten Geselligkeit. Tatsächlich widmete sich die Gesellschaft anfangs auch der Förderung von Musik und Literatur. Das neue Haus verfügte über eine Bibliothek, einen Musiksalon und sogar ein Observatorium. Doch diese aufklärerischen Ideale gerieten rasch ins Hintertreffen.

1834 folgte die offizielle Umbenennung zur Gesellschaft Casino – ein deutliches Signal. Aus dem Musentempel war ein Ort des sozialen Aufstiegs und der elitären Repräsentation geworden. Die Mitgliedschaft war exklusiv, die Auswahlverfahren streng. Für große Feste wurden Kronleuchter aus England importiert, der Wein kam aus Frankreich, aber eine jährliche Steuer von 62 Talern war den Mitgliedern schon wieder zu viel. Sie protestierten – erfolgreich.

Ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Gesellschaftshauses war der verheerende Brand im Jahr 1860, der das Gebäude schwer beschädigte. Dieser Brand machte einen Neubau erforderlich, der nicht nur die äußere Gestalt des Hauses veränderte, sondern auch die Möglichkeit bot, die Innenräume den gewachsenen Ansprüchen der Gesellschaft anzupassen. Der Wiederaufbau wurde zügig vorangetrieben, sodass das Gesellschaftshaus bald wieder als zentraler Ort für die Elberfelder Oberschicht dienen konnte.

Gesellschaftshaus Museum nach dem Wiederaufbau: Der Neubau ersetzte ab 1860 das bei einem Brand zerstörte Vorgängergebäude und spiegelte mit seiner repräsentativen Architektur das gewachsene Selbstverständnis der Elberfelder Oberschicht wider.

Während die Gründungsmitglieder noch von der „Veredelung des Menschen“ durch Bildung sprachen, ging es nun um geselliges Netzwerken auf hohem Niveau. In den Worten Illners: Was als Ort der Aufklärung begann, endete als Salon der Kaufleute – mit teurem Wein und exklusivem Zugang.

Für unsere Führung war dieses Haus ein Schlüsselort. Es zeigte exemplarisch, wie sich bürgerliche Ideale im 19. Jahrhundert wandelten: von der Idee einer offenen Bildungsbürgergesellschaft hin zu einem Kreis der ökonomisch und sozial Etablierten. Hier stand nicht mehr der gemeinsame Fortschritt im Mittelpunkt, sondern der gemeinsame Status. Und das, so still und monumental wie das Gebäude selbst, sagte viel über die Elberfelder Gesellschaft aus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude nicht wieder aufgebaut. Heute steht dort das Finanzamt – ein Ort der Verwaltung, nicht der Geselligkeit. Von der einstigen Pracht ist kaum etwas geblieben, außer dem Straßennamen. Aber vielleicht ist es gerade das: ein stilles Mahnmal dafür, dass auch das Gesellschaftliche selbst eine Geschichte hat – eine, die man entdecken kann, wenn man die richtigen Fragen stellt.

IV. Katholisches Selbstbewusstsein in bürgerlicher Verpackung – Das „Parlament“ in Elberfeld und Barmen

Am Laurentiusplatz sprachen wir über eine Gesellschaft, deren Name allein schon für Gesprächsstoff sorgt: das „Parlament“ – gegründet 1845 von fünfzig katholischen Bürgern unter der Leitung von Johann Gregor Breuer. Der Name war ein kluger Schachzug: weltlich genug, um niemanden zu verschrecken, katholisch genug, um Zusammenhalt zu stiften. Denn in Elberfeld – einer Stadt mit stark protestantischer Prägung – blieben Katholiken lange außen vor, wenn es um Netzwerke, Einfluss und gesellige Runden ging. Das Parlament war ihre Antwort: Ein Treffpunkt, eine Schutzgemeinschaft und ein soziales Projekt in einem.

Die Gesellschaft engagierte sich bald über das Gesellige hinaus. 1855 war sie treibende Kraft bei der Gründung des St.-Josef-Krankenhauses – ein bleibendes Zeichen für soziale Initiative statt politischer Repräsentation. Es ging nicht um offene Konfrontation, sondern um stille Präsenz. Wer in den protestantischen Vereinen keinen Zutritt fand, schuf sich eben eigene Räume.

Auch in Barmen entstand ein Parlament, gegründet 1827, also sogar früher als in Elberfeld. Es war ebenfalls ein Zentrum für das katholische Bürgertum – Ausdruck einer sozialen Topografie, in der Konfession, Klasse und Kommunikation eng miteinander verknüpft waren. Dass es heute in Barmen noch eine Parlamentsstraße gibt, ist ein stilles Echo auf diese Tradition: auf Vereine, die ihren Mitgliedern Gemeinschaft, Einfluss und Identität gaben – in einer Stadt, die viel Wert auf Zugehörigkeit legte.

V. Vom Schießstand zum Statussymbol – Die Schützengesellschaft am Brill

Unsere letzte Station führte uns zum Brill, genauer: zum ehemaligen Gasthaus Ehrmann, das ab 1821 als Treffpunkt der Schützengesellschaft Elberfeld diente. Die Gesellschaft selbst war bereits 1805 gegründet worden – damals noch ein Zusammenschluss aus Handwerkern, Fuhrleuten und kleineren Kaufleuten. Hier wurde tatsächlich geschossen – regelmäßig, ernsthaft, mit viel Bier im Anschluss.

Ein besonders charmantes Detail offenbarte sich direkt gegenüber: die Scheibenstraße. Was heute wie ein beliebiger Straßenname klingt, war einst ganz wörtlich zu nehmen – dort standen die Zielscheiben der Schützen, deutlich sichtbar vom Gasthaus aus. Zwischen Zigarre und Zielsicherheit lag also nur ein Schritt über die Straße.

Dabei hatte alles ganz woanders begonnen: Der erste Schießplatz der Gesellschaft lag nicht in Elberfeld, sondern in Barmen. Doch schon 1809 zog man nach Elberfeld um, auf die Westerwiese am Neuenteich – ein Grundstück des wohlhabenden Kaufmanns Abraham Bertram, der selbst Mitglied war. Dort fanden die ersten großen Feste statt. 1821 dann der erneute Umzug: zum Brill, auf das Gelände beim Gasthaus Ehrmann. Eine Entscheidung mit weitreichender Wirkung, denn der neue Standort lag mitten im aufstrebenden Elberfelder Bürgertum. Ehrmanns Gasthaus war zuvor eine Raststation für Fuhrleute – nun wurde es zum gesellschaftlichen Zentrum der Schützengesellschaft.

Dieser Schritt war nicht nur geografisch klug, sondern auch sozial wirksam. Viele Mitglieder der Gesellschaft wohnten inzwischen in den Straßen Mäuerchen und Königsstraße (heute Friedreich-Ebert-Straße) – der Weg zum Neuenteich war weit, der Brill dagegen lag vor der Haustür. Und so wurde aus dem einst handwerklich geprägten Verein ein Treffpunkt der städtischen Elite. Mit leichtem Spott sprach man bald vom „Schinkenbrill“ – ein Hinweis auf die fleischreichen Tafeln und das bürgerlich-üppige Ambiente.

Gasthaus Ehrmann

Spätestens ab den 1870er-Jahren war aus dem Schützenverein ein exklusiver Herrenclub geworden. Familien wie Bemberg, von der Heydt und Schlieper gaben den Ton an. Das Schießen rückte in den Hintergrund, die Geselligkeit in den Vordergrund. Illner spricht hier von einer Militarisierung bürgerlicher Kultur, die sich nicht im Training, sondern im Auftreten vollzog: Uniformen, Orden, Paraden – und ein klares Bekenntnis zu Monarchie und Nation.

Was einst als bürgerlich-patriotische Wehrübung begann, endete im späten 19. Jahrhundert als politisch konservative Statusveranstaltung. Und dennoch: Die Scheibenstraße liegt noch da. Ein leises Zeichen für ein Stück Wuppertaler Vereinsgeschichte, das vom Bürgersinn zum Bierzelt, vom Schießstand zum Salon führte – und von dem heute mehr bleibt, als man auf den ersten Blick sieht.

1936 fusionierte die Gesellschaft Kasino mit der Schützengesellschaft am Brill, wodurch sich die Traditionen und Netzwerke beider Vereinigungen vereinten. Diese Fusion stärkte die Position der Schützengesellschaft als zentrale gesellschaftliche Institution in Elberfeld, was sich auch daran zeigt, dass sie als einzige der hier aufgeführten Gesellschaften noch existiert. Sie ist, durch die Fusionen, die direkte Nachfolgerin, der Lesegesellschaft, deren 250jähriges Bestehen 2025 gefeiert werden kann.

VI. Abschließend: Wege durch die bürgerliche Gesellschaft

Unser Rundgang durch das bürgerliche Elberfeld war kein Spaziergang durch eine Ausstellung, sondern durch eine gewachsene, bewegte und manchmal widersprüchliche Welt. Von der Lesegesellschaft des späten 18. Jahrhunderts bis zur Schützengesellschaft am „Schinkenbrill“ spannt sich ein Bogen, der zeigt, wie sehr sich das Vereinsleben im 19. Jahrhundert veränderte – von der Bildung zur Repräsentation, vom Gemeinsinn zur Geselligkeit, vom offenen Ideal zur exklusiven Zugehörigkeit.

Doch in all dem Wandel blieb eines konstant: Das Bedürfnis, sich zu organisieren, zusammenzukommen, Gemeinschaft zu erleben – sei es im Zeichen der Aufklärung, der Konfession oder der Nation. Männer debattierten, stifteten, stießen an; Frauen nähten, pflegten, unterrichteten – und etablierten ganz eigene Formen der Teilhabe.

Was heute nach Straßen und Gebäuden aussieht, war einst gelebter Alltag: Gespräch, Entscheidung, Ausschluss, Begegnung. Und manchmal steht es noch da, ganz unscheinbar – als Straßenname, als Gebäude, als versteckte Erinnerung in Stein und Schrift. Wer sich die Zeit nimmt, hinzusehen, erkennt: Die Stadt spricht. Und manchmal erzählt sie sogar von sich selbst.

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