Wer über die Industrialisierung Oberbarmens spricht, muss zunächst einen Schritt zurücktreten. Denn „Oberbarmen“ ist ein moderner Verwaltungsbegriff, entstanden vor etwa fünfzig Jahren, um verschiedene historisch gewachsene Ortschaften wie Wichlinghausen, Rittershausen, Wupperfeld und Nächstebreck unter einem Stadtbezirk zusammenzufassen. Die alten Namen aber, wie etwa „Wupperfeld“, sind nicht verschwunden – sie leben in Straßennamen fort und stehen sogar noch an Gebäuden, wie etwa am Umschlagwerk der WSW an der Straße Krühbusch. Die Geschichte dieses Bezirks lässt sich also nicht pauschal erzählen, sondern muss differenziert und ortsgebunden erfolgen – und dabei rückt Wupperfeld besonders in den Fokus.
Denn ohne die Textilindustrie wäre die Ortschaft Wupperfeld in dieser Form nie entstanden. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich dort, rund um die Wupperfelder Kirche, ein industriell geprägtes Gemeinwesen: erste Bleichereien, Garnspinnereien und Färbereien siedelten sich an. Noch heute erinnert die Färberstraße an diese Anfänge. Der „Bleicherbrunnen“ auf dem Wupperfelder Markt erzählt ebenfalls von dieser Zeit – und davon, dass sich um die Textilwirtschaft schon früh Strukturen bildeten, die lange nachwirkten. So waren Barmen und Elberfeld Träger des sogenannten „Garnnahrungsprivilegs“, also des Monopols auf das Bleichen bestimmter Garne. Die Menge war streng reglementiert – was einige clevere Unternehmer allerdings nicht davon abhielt, durch illegalen Transport nach Schwelm und geschickte Umgehung der Regeln dennoch ein Vermögen zu machen. Aus solchen Anfängen gingen später viele bedeutende Firmen hervor, andere siedelten sich in ihrem Umfeld an. Einige Produktionsstätten, wie Barthels-Feldhoff an der Brändströmstraße, existieren noch heute.
Die Textilindustrie in Oberbarmen – wie im gesamten Tal – war von Anfang an in globale Zusammenhänge eingebettet. Anfangs verarbeitete man in Wupperfeld vor allem Hanf, der meist aus dem Hessischen geliefert wurde. Später kamen Seide und schließlich Baumwolle hinzu – ein Material, das sich als besonders strapazierfähig erwies. Schon im 18. Jahrhundert reisten bergische Kaufleute über den Atlantik, ließen dort produzieren oder bezogen Rohstoffe, für deren Transport und Verarbeitung auf amerikanischen Plantagen Sklavenarbeit genutzt wurde. Auch wenn direkte Beteiligung am Sklavenhandel nicht belegbar ist, so war man doch eindeutig in ein System eingebunden, das auf Ausbeutung beruhte. Der amerikanische Bürgerkrieg in den 1860er-Jahren, mit seinem Einfluss auf die Baumwollverfügbarkeit, traf die Wuppertaler Industrie empfindlich, was sich in den Bilanzen etwa der Firma Mittelsten-Scheid zeigte. In der Folge wandten sich die Firmen verstärkt anderen Bezugsquellen zu – etwa den britischen Kolonien in Indien oder Ägypten. Die Widersprüchlichkeit dieser Handelsbeziehungen wird besonders deutlich in der Tatsache, dass Plantagenarbeiter in Nordamerika Kleidung trugen, die aus Leinenstoffen aus Elberfeld gefertigt war – und in eben diesen Kleidungsstücken Baumwolle für den deutschen Markt pflückten.
Mit der wachsenden Industrie stieg auch der Bedarf an Arbeitskräften – und damit setzte frühzeitig Migration ein. Zwar gibt es für das 19. Jahrhundert kaum verlässliche Statistiken zur Einwanderung, aber einzelne Spuren sind doch erkennbar. Die Häuser am Klingholzberg etwa wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts eigens für italienische Fremdarbeiter errichtet, die am Bau der Rheinischen Eisenbahn beteiligt waren. Viele dieser Männer kehrten nach Vollendung der Strecke zurück – aber einige, wie der Weinhändler Luigi Groci, blieben. Der Zuzug aus dem nahegelegenen Oberbergischen, dem Homburgischen und dem Waldecker Land war besonders bedeutend – hierher kamen viele Frauen, die in den Textilfabriken Arbeit fanden. Daraus entstand um 1900 das Bild vom „Tal der fleißigen Mädchen“, denn es waren vor allem junge, unverheiratete Frauen, die bis zur Heirat in der Textilindustrie tätig waren.
Eine Schlüsselrolle in dieser Entwicklung spielte der Eisenbahnbau. Ohne die Bahn wäre der Arbeitskräftetransfer in dieser Form nicht möglich gewesen. In den 1870er-Jahren wurde die Rheinische Strecke durch den Norden des Wuppertals in nur fünf Jahren fertiggestellt – mit Viadukten und Tunneln, durch Felsen hindurch. Die technische Leistung war enorm – und sie steht symbolisch für eine Epoche, in der sich Arbeit, Technik, Migration und städtischer Wandel in rasantem Tempo verknüpften. So wurde das Quartier zu einem Ort des Strukturwandels, an dem die technischen und sozialen Entwicklungen der Industrialisierung bis heute sichtbar geblieben sind.
Der Wandel aber hörte mit dem 19. Jahrhundert nicht auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen neue Migrantengruppen nach Oberbarmen – die ersten sogenannten „Gastarbeiter“ arbeiteten in Nächstebreck bei der Firma Herberts. Heute leben in dem Bezirk Menschen aus rund 100 Nationen, der Migrationsanteil liegt bei etwa 60 Prozent. In vielen Straßenszenen – wie etwa am Berliner Platz – ist ein lebendiges Miteinander zu beobachten: Jugendliche verschiedenster Herkunft sprechen Deutsch, manchmal mit eigenem Akzent oder Slang, aber mit dem Willen zur Verständigung. In dieser alltäglichen Vielfalt liegt eine Zukunftschance – auch wenn der Bezirk gleichzeitig den höchsten Anteil an AfD-Wähler*innen in der Stadt aufweist.
Umso wichtiger ist es, historische Verantwortung nicht nur allgemein zu benennen, sondern mit konkreten Orten, Geschichten und Zusammenhängen zu verankern. Die Geschichte der Industrialisierung in Oberbarmen ist damit nicht nur eine Geschichte von Maschinen, Stoffen und Märkten – sondern auch von Menschen, von Aufstieg und Ausgrenzung, von globalen Verflechtungen und lokalem Wandel. Sie weiterzuerzählen, ist ein Beitrag zur Gegenwart.