Der Wichlinghauser Markt wird oftmals als ein Ort beschrieben, an dem sich zahlreiche Menschen aufhalten, die es gewohnt sind, in aller Öffentlichkeit und zu jeder Uhrzeit Alkohol zu konsumieren. Nicht selten werden diese Menschen als Störfaktor im öffentlichen Raum wahrgenommen. Dabei hat der Konsum von Alkohol in Wichlinghausen eine lange Tradition, wie der folgende Witz belegt, der wohl aus der Zeit des Kaiserreiches stammt:
Zwei Wichlinghauser Pensionäre finden eine Goldmark. Fragt der eine: „Was machen wir denn mit dem Geld?“ Sagt der andere: „Wir kaufen davon zu neun Zehntel Schnaps und zu einem Zehntel Brot!“. Darauf der andere: „Mensch, was machen wir denn mit all dem Brot?“
Kann man diese Anekdote untermauern? Wie standen die Wichlinghauser früher zum Alkohol? Ein erster Hinweis stammt aus dem 16. Jahrhundert. Conrad Klingelholl, Bleicher mit eigenem Hof östlich der Schwarzbach und Verwandter der Familie Klingelholl vom gleichnamigen Hof südlich des Nordparks, wird zusammen mit sieben anderen Männern aus Barmen beschuldigt, Bier nach Barmen geschmuggelt zu haben. Zur damaligen Zeit war es verboten, in Barmen Bier auszuschenken, dass nicht auch dort gebraut worden war. Conrad und die anderen mussten so das von ihnen favorisierte Bier heimlich nach Wichlinghausen bringen und wurden dabei erwischt.
Gebraut wurde demnach in Barmen schon früh – und getrunken wurde auch. Einmal im Jahr wohl sogar höchst offiziell. Am Wichlinghauser Markt tagte bis 1808 einmal jährlich am Donnerstag nach dem Jakobstag (25. Juli) das Hofgericht, bei dem Liegenschaftsangelegenheiten geregelt wurden. Da das Hofgericht dem Grafen von der Mark unterstand, musste jeder neue Besitzer eines Grundstücks zeitig nach Kauf oder Erbe eines Hofes bei dem Gericht erscheinen und einen Eid auf den Grafen schwören. Geschah dies nicht, kam es zu einer Strafzahlung. Aus dem 17. Jahrhundert ist überliefert, wie man diese Strafzahlungen (auch) regelte. So wurden „einige Ungehorsame mit etlichen Bier gestraft“ oder man belegte sie „mit einem Viertel Bieres“ als Strafe. Bedenken muss man dabei vor allem noch drei Dinge. Zum einen tagte das Hofgericht in einer Gastwirtschaft (nämlich dort, wo früher die Stadtbibliothek und noch früher die Sparkasse war und heute ein Kiosk bzw. auf dem Hof dahinter), zweitens ist der Jakobstag immer schon ein Tag für Volksfeste gewesen und drittens hatte das Gericht spätestens im 18. Jahrhundert seine offizielle Funktion verloren und wurde sozusagen als Brauchtum und Volksfest weitergeführt. Dass bei einem solchen Ereignis reichlich Alkohol floss, erschließt sich von selbst.
Auch nach dem Ende des Hofgerichts wurde in Wichlinghausen weiter gefeiert. Als 1832 die neue Elementarschule (in der Wichlinghauser Schulstraße, heute die dortige Kita) eingeweiht wurde, berichtet das Barmer Wochenblatt sehr ausführlich und stellt fest, dass „der Gastwirth Bonsiep in dem neuen schönen Schulgebäude ein Mittagsmahl veranstaltete, an welchem mehr als hundert Festgenossen Theil nahmen. Dies dauerte, unter Abwechslung von Trinksprüchen und Becherklang, bis zur einfallenden Dunkelheit“.
Zum damaligen Zeitpunkt gab es in Wichlinghausen zudem drei Brauereien, sechs Wirte und zwei Brauereibesitzer mit Wirtshaus und noch ein paar Brennereibesitzer, etwa Johann Caspar Lohmann an der Tütersburg 20. Dass alle acht Wirte, von denen sechs im Bereich Wichlinghausen und zwei im Bereich Leimbach ihre Betriebe hatten, ohne Probleme überleben konnten, zeigt, dass in Wichlinghausen gern und wohl auch viel getrunken wurde.
Es verwundert daher nicht, dass es hier auch zum Aufstieg einer Familie von Alkoholfabrikanten kam. Die erste Spur dieser Familie findet sich 1838 in einem Adressbuch von Barmen. Im Bereich Westkotten wird ein Branntweinbrenner mit Namen Wilhelm Hollmann genannt. Keine dreißig Jahre später sollte aus der Brennerei eine Brauerei werden, als 1867 die Waldschlößchen-Brauerei durch Friedrich Wilhelm Hollmann gegründet wurde, von der noch einzelne Gebäude heute an der Märkischen Straße stehen. Neun Jahre später folgte die Gründung der Feldschlößchen Brauerei von Otto Hollmann, nahezu gegenüber an der Märkischen Straße 13 – 15. Beide Brauereien konnten sich bis in die 60er Jahre als eigenständige Unternehmen behaupten, doch schließlich übernahm Wicküler die Waldschlößchen-Brauerei, während am 12. Mai 1971 viele Menschen der Sprengung der Feldschlößchen-Brauerei beiwohnten.
Dass der Verbrauch hoher Mengen an Alkoholika nicht nur auf Zustimmung stieß, steht außer Frage. Der Wichlinghauser Pfarrer Immanuel Sander sah ihn als Problem an, dem er zusammen mit seinem Wupperfelder Kollegen Feldhoff 1838 einen Mäßigungsverein entgegensetzte, der die „Seuche des übermässigen Alkoholgenusses“ bekämpfen sollte. Die Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen, so dass der Verein bald wieder verschwand, dennoch blieb die Idee in einem Sonntagsverein erhalten, der von den Wichlinghausern bald als „Wasserklub“ verspottet wurde. Doch die Abneigung gegenüber Alkohol blieb bis in das frühe 20. Jahrhundert bei vielen Wichlinghausern bestehen. Noch Kläre Birkenstock lobte 1927 in ihrem Gedicht Am Wichlinghauser Markt den alten Wanderer, der sich löblicherweise an der Fontaine bediente, statt die zahlreichen Kneipen zu besuchen.
Dass sich zudem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine große Zahl von Kneipen in Wichlinghausen und Umgebung bildeten, kann man an den zahlreichen Jungendstilhäusern erkennen, die an den Straßenecken stehen. Eckkneipe an Eckkneipe standen bis in die 1990er Jahre in Wichlinghausen. Diesen Kneipen war übrigens eines gemein: Wenn Wahlen waren, wurden sie tatsächlich zu Wahllokalen. Während man heute in Schulen und Altenheimen sein Kreuzchen macht, war es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts üblich auch in Gaststätten zu wählen. Eine Stichprobe der Wichlinghauser Wahlbezirke zeigt aber, dass der Ort der Stimmabgabe kaum Einfluss auf die Wahlergebnisse hatte. Egal ob in der Kneipe oder in der Schule, ob links, rechts oder in der Mitte – der Genuss von Alkohol sorgte nicht für einheitliche Wahlergebnisse.