Aus den Memoiren von Pfarrer Nell

Nächstebreck bekam 1877 seine erste eigene evangelische Kirchengemeinde. Der erste Pfarrer, Pake, hatte die Gemeinde als Vikar in die Unabhängigkeit von Schwelm tatkräftig begleitet, doch war nach wenigen Jahren vom Hottenstein verschwunden. Im Februar des Jahres 1881 folgte ihm Philipp Nell im Amte nach und sollte 39 Jahre die Geschicke der Kirchengemeinde und damit auch des politischen Bezirks Nächstebrecks mitgestalten. 

Zum Ende seiner Zeit in Nächstebreck verfasst Nell seine Memoiren, die zwar etwas mehr als drei hundert Maschinen geschriebene Seiten umfassen, aber leider nur auf den letzten zehn Seiten auf seine Zeit am Hottenstein eingehen. Darin reflektiert er den langen Kampf der Nächstebrecker Protestanten um ihre Unabhängigkeit, spart aber auch nicht mit persönlichen Eindrücken darüber, wie in seinen Augen die Zeit vor der Jahrhundertwende in Nächstebreck ausgesehen hat. 

Nells Hauptthema in seinen Memoiren über Nächstebreck ist sein vehementer Kampf gegen die Trunksucht, die in Nächstebreck Einzug gehalten hatte, und die er als „die traurigen Nachwirkungen der Schwindeljahre 1872/1877“ bezeichnet, „welche trotz der großen Bankkrachs und deren traurigen wirtschaftlichen Folgen so verderbniserregend auf die Moralität der Bevölkerung ihren Einfluss noch ausübten“. Damit spricht Nell von einer Bankenkrise, die in der breiten Öffentlichkeit mittlerweile kaum noch präsent ist: Dem Gründerkrach der 1870er Jahre. Kurz zusammengefasst, geht es dabei darum, dass durch den Krieg von 1870/71 französische Reparationszahlungen nach Deutschland flossen, was zunächst zu einem Bauboom in vielen Regionen Deutschlands, so auch im Wuppertal, führte, der aber schließlich, weil man sich verspekulierte, zu einer Krise führte, an der zahlreiche Zukunftspläne scheiterten und viele Menschen in Kreditnot gerieten. Ein vermeintlicher Ausweg daraus war der Alkohol. 

Was dieser aus den Nächstebreckern machte, beschreibt Nell eindringlich: 

„Das Wirtshausleben stand in vollem Flor, auf 85 Seelen kam eine Wirtschaft. In Lokalen wurden wahre Orgien gefeiert. Die Jugend war verwildert, ja zum Teil ganz verroht. Fast jeden Sonntag kamen Schlägereien zwischen den leichten Burschen von Hottenstein und denen von Beckacker und Hasslinghausen vor, denen dann Verhaftungen, Gerichtsverhandlungen und Gefängnisstrafen folgten. […] Die jugendlichen Streitlustigen hantierte nicht bloß mit Fäusten, sondern mehr noch mit Knüppel und Messern und geschärften Dolchen. […] Die Alten machten es nicht besser. Kamen sie von ihren Lieferungen in Barmen, so fühlten sie sich moralisch gezwungen, in jeder Wirtschaft einzukehren. In welchem Zustand du sie zu Hause ankamen, kann man sich leicht denken. Mit eigenen Augen habe ich’s angesehen, wie betrunkene Riemendreher vor der Muhlmann’schen Wirtschaft von dem Lieferwagen heruntergehoben, ins Lokal geführt und nach eigener Zeit noch schwerer beladen wieder hinaufbefördert wurden.“

Alldem fühlte sich Nell insoweit verpflichtet, als dass er, anders als sein Vorgänger, sich nicht dazu überreden ließ, kirchliche und andere Amtsgeschäfte in den Kneipen vor Ort zu besprechen, sondern im Gegenteil diesem Treiben ein Ende zu setzen. Das gestalte sich schwierig, denn sein Kirchmeister, also das wohl einflussreichste Mitglied des Presbyteriums, war Friedrich Söhngen, seines Zeichens Branntweinfabrikant und der „Herr von Nächstebreck“, wie es Nell beschreibt. Auf dessen Bestreben hin war Nell ursprünglich aus Unterbarmen, wo er als Hilfsprediger tätig war, nach Nächstebreck geholt worden, weil Philipp Nell der Ruf eines liberalen Pfarrers vorausging. Söhngen hatte sich wohl erhofft, dass mit einem Pfarrer, bei dem man Fünfe gerade sein lassen konnte, so dass er weiterhin alle Fäden in der Hand halten konnte. Allerdings hatte er sich mit Nell zwar einen in kirchliche-orthodoxen Dingen liberalen Pfarrer eingeladen, aber niemanden, der die moralische Seite seines Amtes ebenso betrachtete.  

Die Streitigkeiten zwischen den beiden wurden oftmals auf dem Rücken anderer ausgetragen. Einer der Leidtragenden war der Küster, der oftmals alkoholisiert zum Dienst erschien und in mehreren beruflichen und privaten Abhängigkeiten von Söhngen stand. Nell wollte den Küster aus dem Amt entfernen lassen, weil er oft betrunken seine Arbeit verrichtete, inklusive des Glockenläutens, was Söhngen aber immer wieder verhinderte, weil er weitreichende Kontakte hatte. 

Nells Memoiren brechen zwar am Ende dieser Auseinandersetzung ab, doch wissen wir aus anderen Quellen, dass diese Machtspiele am Ende zugunsten Nells ausgingen. Söhngen zog sich aus der Arbeit der Gemeinde zurück. Erst auf dem Sterbebett Söhngens soll es zur Versöhnung der beiden Alphatiere gekommen sein.

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